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12.06.2023 | Compliance | Schwerpunkt | Online-Artikel

Bei Kinderarbeit ist Null-Toleranz nicht genug

verfasst von: Michaela Paefgen-Laß

8:30 Min. Lesedauer

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Der Kampf gegen Kinderarbeit muss die Rechte von Kindern in den Mittelpunkt stellen, fordert eine aktuelle Studie. Child Labour ist demnach kein Unternehmensrisiko, sondern eine Gefahr für Kinderrechte. Nur: Arbeitende Kinder werden in rechtsfreien Räumen versteckt.

Kinderarbeit ist allgegenwärtig. Der Geschmack danach schmilzt mit der Schokolade im Mund weg oder hübscht als handgefertigter Wasserhyazinthenkorb nicht nur das Eigenheim auf, sondern gleichzeitig auch das gute Gewissen. Ein Korb aus dem schnell nachwachsenden Rohstoff signalisiert schließlich Umweltbewusstsein. Kinderarbeit steckt auch im Smartphone, das den Wasserhyazinthenkorb von jetzt auf gleich verfügbar macht. 

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Der 12. Juni, im Jahr 2002 von der Internationalen Arbeitsorganisation ILO zum Welttag gegen Kinderarbeit ausgerufen, ist also alles andere als überflüssig. Denn die Ausbeutung der Jüngsten ist zwar allgegenwärtig, doch oft verdrängt und unsichtbar. Es braucht ein starkes Licht, um Kinderarbeit in den Winkeln dieser Welt zu finden und zu bekämpfen.

Kinder sind Opfer globaler Geschäftspraktiken

So musste Hoang aus Vietnam die Schule abbrechen, um ihre Familie bei der Heimarbeits-Flechterei zu unterstützen. Statt einen Beruf zu erlernen, fertigt sie nun täglich bis zu vier größere Körbe aus Wasserhyazinthen. Dafür erhält die Familie rund 1,20 US-Dollar. Verteuert sich das Rohmaterial, verschlingt allein die Beschaffung bis zur Hälfte dieser Einnahmen. Das Beispiel von Hoang, deren Namen geändert wurde, demonstriert, wie "aggressive Preisstrukturen, unrealistische Umschlagszeiten sowie schwankende Bestellmengen", das Risiko von Kinderarbeit erhöhen. Das berichten die Kinderrechtsorganisationen Save the Children Deutschland und The Centre for Child Rights and Business in ihrer Metastudie zu Kinderrechtsrisiken in globalen Lieferketten. Hoang wird weiter mit ihrer Familie arbeiten müssen und sie wird dafür nicht bezahlt werden können.

Kinderarbeit (Child Labour) ist von der ILO in der Konvention 138 zum Schutz von Kindern definiert. Von Kinderarbeit ist dann die Rede, wenn die Art der Beschäftigung, das Alter des Kindes und die Höchstgrenzen der Arbeitszeit gegen rechtliche Normen verstoßen und die Entwicklung des Kindes mental, physisch, sozial und moralisch gefährden. Die schlimmsten Formen der Ausbeutung sind in der Konvention 182, Artikel 3 definiert. In den Sub-Sahara-Regionen sind der ILO zufolge rund 38,6 Millionen Kinder zwischen fünf und 17 Jahren gefährlicher Arbeit ausgesetzt. 

For the purposes of this Convention, the term the worst forms of child labour comprises:

(a) all forms of slavery or practices similar to slavery, such as the sale and trafficking of children, debt bondage and serfdom and forced or compulsory labour, including forced or compulsory recruitment of children for use in armed conflict;

(b) the use, procuring or offering of a child for prostitution, for the production of pornography or for pornographic performances;

(c) the use, procuring or offering of a child for illicit activities, in particular for the production and trafficking of drugs as defined in the relevant international treaties;

(d) work which, by its nature or the circumstances in which it is carried out, is likely to harm the health, safety or morals of children. (IL0, 1999)

Extreme Ausbeutung geschieht hinter den Gesetzen

Die Studie von Save the Children Deutschland wertet 20 Kinderrechtsanalysen der Jahre 2019 bis 2022 aus. Sie liefert Daten zur Kinderrechtssituation in Lieferketten aus den Bereichen Produktion, Landwirtschaft und Bergbau. Jede Analyse gründet auf Daten, erhoben vor Ort, in Gesprächen mit 2.751 Elternteilen und 1.799 Kindern. Die Vietnamesin Hoang ist eines dieser Kinder. Außerdem wurden Interviews mit Stakeholdern in Lieferketten und Gemeinschaften geführt. 

Die Hälfte der Analysen liefert unmittelbare Belege für Kinderarbeit. In acht weiteren wurde ein sehr hohes Risiko festgestellt. Die schlimmsten Formen geschehen in Kleinbäuerlichen Betrieben und im Kleinbergbau. Arbeiten unterhalb des Mindestalters, welches in den meisten Staaten zwischen 14 bis 16 Jahren liegt, spielt sich vor allem in den vorgelagerten unteren Ebenen der Lieferkette ab und im informellen Sektor, so das zentrale Ergebnis der Metastudie. Doch bis dorthin greifen Selbstverpflichtungen wie das Null-Toleranz-Prinzip nicht. Im Gegenteil: Sie erhöhen die Gefahr, dass der Push-Down-Effekt einsetzt und noch mehr Kinder dort arbeiten müssen, wo keiner mehr hinsieht – wo sie die Compliance-Politik großer Unternehmen mit ihren Sozialstandards weder verhindern noch finden kann.

Was ist informelle Arbeit?

Informelle Arbeit, also der Direktverkauf von Waren aus eigener Herstellung, Transportdienstleistungen, kleine Handwerksarbeiten oder Tagelöhnerjobs, so kritisiert Springer-Autorin Martina Sproll, ist in der Diskussion um globale Arbeit als Bestandteil von Produktionsnetzen unterrepräsentiert und weder hinlänglich definiert noch als Phänomen empirisch erfasst. Konsens bestehe lediglich darin, was der informelle Sektor nicht ist: "nämlich ein Normalarbeitsverhältnis, das durch einen Arbeitsvertrag und seine Einbettung in das Arbeits- und Sozialrecht formalisiert ist" (Seite 265). 

 "Unsichtbarkeit" bedeutet für Springer-Autorin Claudia Lillge in "Kinderarbeit und neoimperiale Lebensweise im Zeitalter der Globalisierung": "dass etwas tatsächlich unsichtbar ist, dass etwas unsichtbar gemacht wird, dass jemand etwas nicht sehen oder auch übersehen will oder aber, dass sichtbare Informationen (wie unverhältnismäßige Niedrigpreise) verdrängt werden" (Seite 224). Dabei sollte es die schlimmsten Formen von Kinderarbeit gar nicht mehr geben und Kinderarbeit bis zum Jahr 2025 abgeschafft sein, so ist es im Nachhaltigkeitsziel 8.7 aus der im Herbst 2015 verabschiedeten Agenda 2030 formuliert. Genaugenommen ist nun also Halbzeit. Aber was hat sich auf diesem Gebiet getan? 

Kinderarbeit in globalen Lieferketten ähnelt einem Eisberg: Nur ein kleiner Teil der Fälle ist "über Wasser", in den oberen Ebenen der Lieferketten, sichtbar. Die überwiegende Mehrheit der Fälle liegt unter der Oberfläche, in tieferen und informellen Ebenen der Lieferketten versteckt, getrieben von den noch weiter darunter liegenden Ursachen für Kinderarbeit. (Save the Children, 2023)

Wenn sich Eltern schämen, bleibt Kinderarbeit unentdeckt

Unicef und die ILO schätzten in ihrer gemeinsamen Erhebung aus dem Jahr 2020, dass rund 160 Millionen Kinder weltweit arbeiten müssen und die Hälfte von ihnen (79 Millionen) gefährlicher Arbeit mit körperlicher, seelischer und sexueller Ausbeutung ausgeliefert ist. Weitere neun Millionen Kinder könnten von der Covid-19-Pandemie in die Kinderarbeit getrieben worden sein. Statt zu verschwinden, nimmt Kinderarbeit also zu. Wie viele Kinder in den ärmsten Regionen der Welt tatsächlich im Kobaltabbau und auf Plantagen schwerste Formen der Arbeit verrichten müssen, das lässt sich nur ungefähr beziffern.

Forschende der Universitäten Zürich und Pennsylvania vermuten in ihrer Studie "Measuring Child Labour"  eine "dramatische Untererfassung" von Kinderarbeit um einen Faktor von mindestens 60 Prozent, weil vorliegende Daten vor allem aus Haushaltsbefragungen stammten, in denen Eltern über die Arbeitsverhältnisse ihrer Kinder berichteten. Die Scham darüber, schon ihre Jüngsten der Leibeigenschaft und Versklavung ausliefern zu müssen, damit der gröbste Hunger der Familie gestillt ist, machen das Schweigen erklärbar. Die Sensibilisierung der Eltern durch Regierungen und Organisationen dafür, dass Kinderarbeit sozial unerwünscht ist, könnten weiterhin zur Verzerrung der Daten beitragen: "We further show that parents’ reports not only underestimate its prevalence, but can even lead to the wrong conclusions about the effects of policy interventions."

Null-Toleranz verdrängt Kinderarbeit aus dem Blickfeld

Die "Invisibilisierung" von Kinderarbeit in globalen Lieferketten beginnt dort, wo Compliance-Richtlinien den Eigeninteressen von Unternehmen folgen, anstatt substanzielle Verbesserungen in Hinblick auf Menschenrechte zu bewirken. Sie geht dort weiter, wo Kinderarbeit als Unternehmensrisiko formalisiert und zur Abhilfe ein Null-Toleranz-Prinzip zwar vorangetrieben, der zielführende Austausch mit Zulieferern über die tatsächlichen Herausforderungen vor Ort aber umgangen wird. Der Save-the-Children-Report warnt davor, dass ein rein reaktiver Ansatz, der sich auf Kontrollen und Sanktionen beschränkt, nicht ausreicht, um Kinderrechtsverletzungen in globalen Lieferketten zu bekämpfen und Kinder vor schwerer ausbeuterischer Arbeit und Versklavung zu schützen. 

Konventionelle Monitoring-Methoden und Audits sind der Studie zufolge ebenfalls nicht geeignet, die tatsächlichen Arbeitsbedingungen vor Ort wiederzugeben. Weil  die meisten Compliance basierten Ansätze, Mindeststandards und Verhaltenskodizes eben nur auf die Spitze der Beschaffungspyramide (Tier-1-Zulieferer) zielten. Fokussiert wird sich also auf die Produktionsstätten, Subunternehmen, Plantagen oder Minen. Was in den Hinterzimmern der Heimwerkstätten, draußen auf dem Feld und in der Fischerei passiert, entgeht ihnen schlichtweg. Es fehlen weiterhin Systeme zur kinderrechtsbasierten Abhilfe von Kinderarbeit und der Systeme, die Kindern den Zugang zur Abhilfe ermöglichen. Folgende Mängel wurden in den bestehenden Abhilfesystemen für Kinderarbeit festgestellt:

  1. Unternehmen achten nicht darauf, wann in den untersten Ebenen der Lieferkette vor sich geht.
  2. Firmen lehnen die Verantwortung für die unterste Ebene ab oder setzen auf Einzelprojekte.
  3. Kinder und betroffene Familien haben weder Zugang zu Abhilfesystemen noch zu Bildungseinrichtungen
  4. Zertifizierungen, Selbstverpflichtungen und Multi-Stakeholder-Initiativen liefern kaum messbare Ergebnisse.

Wie sich gegen Kinderarbeit vorgehen lässt

Die meisten Kinder arbeiten ganz am Ende der Produktionskette und Produkte ohne Kinderarbeit kann mit gutem Gewissen nur verkaufen, wer mit existenzsichernden Löhnen und Bildungsangeboten zu den Arbeitern in den kleinen Werkstätten und der Rohstoffgewinnung vordringt. Globale Unternehmen sind aufgefordert, sich Zugangsmöglichkeiten zu schaffen und ihre Zulieferer zur Transparenz zu verpflichten. Save the Children fordert eine proaktive Vorgehensweise, die auf Schutz, Prävention und die Stärkung von Kinderrechten zielt.

  • Sichtbarkeit von Kinderrechtsrisiken erhöhen und die Akteure auf allen Ebenen der Lieferkette dafür sensibilisieren. Daten erheben und daraus Wissen zu Kinderarbeitsrisiken in den Geschäftsabläufen und -beziehungen aufbauen und fördern.
  • Zusammenhänge zwischen Geschäftspraktiken und Auswirkungen auf Kinderrechte verstehen und danach handeln. Ungleichheiten in den Beziehungen zwischen Zulieferern und abnehmenden Unternehmen durch engere, langfristige Partnerschaften entgegenwirken, um verantwortungsvolle Beschaffungspraktiken und faire Preise sicherzustellen.
  • Kinderrechtsbasierte Abhilfesysteme etablieren. Positives Engagement statt Rückzug. Sorgfaltsprinzipien für kinderrechtsbasierte Abhilfe von Kinderarbeit beachten. 

Good-Practice gegen Kinderarbeit

Dass das gelingen kann, beweisen die Good-Practice-Beispiele, von denen die Studie auch berichtet. Verantwortungsvolle Geschäftspraktiken finden sich etwa beim Bekeidungsunternehmen im Niedrigpreissegment. Hier dämmen Partnerschaften mit lokalen Expertenteams und der Austausch mit Zulieferern Kinderarbeit in Hochrisikogebieten ein. Oder beim Schokoladenhersteller, der Referenzpreise mit Fairtrade für existenzsichernde Einkommen festgelegt hat. Denn die Nicht-Zahlung von existenzsichernden Löhnen ist eine der Hauptursachen für Missstände. 

Wie Multi-Akteurs-Partnerschaften im Textilbereich Veränderungen bewirken könnten beschreibt die Expertin für Nachhaltigkeit in globalen Lieferketten, Anosha Wahidi, in "Quo vadis Bündnis für nachhaltige Textilien in Zeiten verbindlicher Vorgaben": "Nur dann, wenn die Menschen, die global in die Liefer- und Wertschöpfungsketten eingebunden sind, sich und ihre Familien von ihrer Arbeit ernähren können, wird auch anderen Missständen wie Kinderarbeit und mangelhafter Sozial- wie Gesundheitsversorgung die Grundlage entzogen" (Seite 278). Wahidi mahnt: "An Erfolgen in diesem Bereich werden Brancheninitiativen langfristig gemessen werden" (Seite 303).

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