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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

Die Vielfalt der Ungewissheit bei der Entsorgung hochradioaktiver Abfälle

verfasst von : Roman Seidl, Frank Becker, Anne Eckhardt, Volker Mintzlaff, Dirk Scheer

Erschienen in: Entscheidungen in die weite Zukunft

Verlag: Springer Fachmedien Wiesbaden

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Zusammenfassung

Dieser Band handelt von Ungewissheiten. Ungewissheiten sind aus dem Alltag bekannt, auch, wenn sie nicht differenziert oder explizit so benannt werden. Wir wissen nicht sicher, wie das Wetter wird, wie der Arbeitstag verlaufen wird, ob das Kind gesund von der Schule heimkommt, und auch nicht, ob wir in zwanzig Jahren noch im selben Ort leben werden. Und dennoch kommen wir mehr oder weniger gut zurecht, treffen alltäglich Entscheidungen und planen darüber hinaus in die Zukunft. Wir handeln also auf Basis von Entscheidungen unter Ungewissheit; das gilt auch für Entscheidungsträger:innen in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft.

1 Ungewissheiten bei der Entsorgung hochradioaktiver Abfälle

Dieser Band handelt von Ungewissheiten. Ungewissheiten sind aus dem Alltag bekannt, auch, wenn sie nicht differenziert oder explizit so benannt werden. Wir wissen nicht sicher, wie das Wetter wird, wie der Arbeitstag verlaufen wird, ob das Kind gesund von der Schule heimkommt, und auch nicht, ob wir in zwanzig Jahren noch im selben Ort leben werden. Und dennoch kommen wir mehr oder weniger gut zurecht, treffen alltäglich Entscheidungen und planen darüber hinaus in die Zukunft. Wir handeln also auf Basis von Entscheidungen unter Ungewissheit; das gilt auch für Entscheidungsträger:innen in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft.
Im vorliegenden Band geht es um das Vorhaben, hochradioaktive Abfälle sicher zu entsorgen. Im Vordergrund steht dabei die Endlagerung deutscher Abfälle in Deutschland. Dies ist ein sehr langfristiges Ziel. Zwar sind schon große Mengen hochradioaktiver Abfälle, vor allem aus der Stromproduktion in Kernkraftwerken, angefallen (insgesamt rechnet man mit 27.000 m3 radioaktiver Abfälle mit nennenswerter Wärmeentwicklung1). Sie lagern aber aktuell oberirdisch in sogenannten Zwischenlagern, entweder an den Standorten der Kernkraftwerke oder an anderen Stellen der Republik2. Diese Zwischenlager haben eine begrenzte Genehmigungszeit und auch die Behälter, in denen die Abfälle lagern, sind nicht für sehr lange Zeiträume ausgelegt. Das Wissen über ihr langfristiges Verhalten ist begrenzt. Daher soll möglichst rasch ein Standort gefunden werden, an dem ein Tiefenlager in geeigneten geologischen Verhältnissen erstellt werden kann. Doch auch dies ist mit großen Ungewissheiten verbunden. Viele Dinge sind unbekannt, manche Daten, etwa über die Beschaffenheit des Untergrunds, muss man erst zusammentragen und analysieren. Auch gibt es in Deutschland verschiedene Gesteinsformationen, die infrage kommen. Der Behälter, in dem die Brennelemente letztlich lagern sollen, muss zu diesem Gestein passen. An geeigneten Materialien wird weiterhin geforscht. Zudem muss man sich schon jetzt überlegen, welche möglichen Probleme im zukünftigen Lager auftreten können und wie man diesen begegnen kann. Und das von der Einlagerung bis in die ferne Zukunft hinein. Man spricht von tausenden, gar einer Million Jahren.
Zudem müssen auch die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Belange berücksichtigt werden. Schon bei der Standortsuche wird die Öffentlichkeit informiert und einbezogen. Auch dies ist mit Ungewissheiten verbunden, denn viele Menschen sehen Risiken und vertrauen den staatlichen Institutionen nicht uneingeschränkt. Damit müssen Behörden und Experten umgehen und Konzepte entwickeln, wie Beteiligung gelingen und Vertrauen aufgebaut werden kann.
Dass nicht eine Disziplin oder überhaupt ausschließlich die Wissenschaft ein solches Vorhaben alleine bestreiten kann, wird deutlich. Der Fall der Entsorgung radioaktiver Abfälle ist genuin interdisziplinär und auch die Gesellschaft sollte an der Forschung beteiligt werden. Der vorliegende Sammelband entstand als Disziplinen und Teilprojekte übergreifende Aktivität im Projekt Transdisziplinäre Forschung zur Entsorgung hochradioaktiver Abfälle in Deutschland (TRANSENS)3. Dieses Projekt wird von 2019 bis 2024 vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz und der Volkswagenstiftung gefördert.
Kolleginnen und Kollegen aus Sozial- und Geisteswissenschaften in diesem Projekt sind ebenso interessiert am Thema Ungewissheiten wie solche aus den Ingenieur- und Naturwissenschaften. Zudem wurde eine Gruppe von Bürgern und Bürgerinnen ausgewählt4, die die Forschung begleiten und an Projekttreffen sowie in Workshops aktiv teilnehmen. Diese „Arbeitsgruppe Bevölkerung“ (AGBe) ist in diesem Band mit einem eigenen Beitrag vertreten, in dem sie die diversen Ungewissheiten, die sie im Verfahren und im Projekt identifiziert hat, aufgreift.

2 Beispiele für Ungewissheiten

Wie Abb. 1 illustriert, werden verschiedene Aspekte mit Ungewissheit in Verbindung gebracht. Einige Risikodefinitionen etwa verbinden Eintretenswahrscheinlichkeit mit dem Schadensausmaß. Erstere ist direkt Ausdruck von Ungewissheit und auch das Schadensausmaß ist oft genug nur abschätzbar. Es bestehen also bei beiden Komponenten Ungewissheiten. Die Zeiträume mit denen man es zu tun hat, sind gerade bei der Lagerung radioaktiver Abfälle ein wesentlicher Aspekt. Die Entwicklungen in die ferne Zukunft sind jenseits bekannter Halbwertszeiten und geologischer Prozesse im Wesentlichen ungewiss (etwa die Frage, wie sich Gesellschaften und politische Systeme entwickeln werden oder das Langzeitverhalten von Materialien).
Die beträchtlichen Ungewissheiten, die in dem Thema Entsorgung stecken, wurden bisher aber nicht systematisch inter- und transdisziplinär beforscht. Der Fokus lag vor allem auf einzelnen Aspekten der Ungewissheit, die isoliert behandelt wurden. Es fehlte ein übergreifender Ansatz, der verschiedene Ungewissheiten gemeinsam bzw. in Abgrenzung zueinander behandelt. Dazu gehören etwa Planungsungewissheiten, Systemungewissheiten, Daten- und Modellierungsungewissheiten, Human Factors-Ungewissheiten, quantifizierbare und nicht-quantifizierbare Ungewissheiten, bekannte und unbekannte Ungewissheiten. Die Aufzählung zeigt, dass es sehr unterschiedliche Arten von Ungewissheiten und auch Umgangsweisen mit ihnen gibt. Planungsungewissheiten, die die Gestaltung des Entsorgungswegs betreffen, unterscheiden sich fundamental von Ungewissheiten, die die Langzeitsicherheit eines verschlossenen Endlagers betreffen. Entsprechend muss auch ein vielfältiger „Werkzeugkasten“ zum Umgang mit Ungewissheiten zur Verfügung stehen.
Dazu können Ungewissheiten auf verschiedene Weise klassifiziert werden (siehe auch Eckhardt 2021):
  • Nach der Art der Unsicherheiten: Es liegt ein Mangel an Wissen vor (epistemisch), es herrscht Zufall (aleatorisch), es herrschen unterschiedliche Meinungen und Ansichten vor (normativ).
  • Nach dem Grad des Wissens und seiner Verfügbarkeit: known knowns, known unknowns, ignored knowns, unknown unknowns
  • Nach ihrer Beschreibbarkeit: quantifizierbare und nicht-quantifizierbare Ungewissheiten
  • Nach dem für die Endlagerung relevanten Bereich, den sie betreffen: Individuum, Gesellschaft, Technik, Geologie, Biosphäre, Klima.
Diese unterschiedlichen Perspektiven werden auch in den Beiträgen des Sammelbands deutlich und durchaus in Kombination behandelt. Im Schlusskapitel werden diese Perspektiven vor dem Hintergrund der Beiträge nochmals reflektiert. Beispielsweise ist es so, dass man einige Ungewissheiten in wissenschaftlichen Modellen und Simulationen abschätzen und quantifizieren kann. Andere lassen sie sich mitunter nur schwer eingrenzen, etwa solche, die auf einen menschlichen Faktor zurückzuführen sind. Es müssen Methoden erweitert und entwickelt werden, um solche Ungewissheiten zu erfassen, wenn möglich zu quantifizieren oder anderweitig berücksichtigen zu können.
In diesem Band sind Beiträge versammelt, die die Bandbreite verdeutlichen, welche Ungewissheiten beim Vorhaben „Entsorgung hochradioaktiver Abfälle“ in Deutschland berücksichtigt werden müssen. In diesem einleitenden Kapitel soll die zum Teil sehr unterschiedliche Terminologie in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Ansätzen nicht im Zentrum stehen. Dies wurde bereits anderswo systematisch geleistet (Eckhardt 2021). Auch fokussieren die einzelnen Beiträge jeweils auf ihre Kernthemen und verdeutlichen ihre Definition von Ungewissheiten. Dabei spannen sie den Bogen von erkenntnistheoretischen Beiträgen, über konkrete Fragen, wie wissenschaftliche Ergebnisse mit ihren Ungewissheiten kommuniziert werden können, oder welche Ungewissheiten im Safety Case mathematisch behandelt werden. Den gesamten Band zu eigen ist aber ein ganzheitlicher Blick auf die große Vielfalt von Ungewissheiten, die die Entsorgung begleiten, wie in Abb. 1 illustriert.
Grundsätzlich geht es um Ungewissheiten, die den weiteren Verlauf des Entsorgungswegs und das (Langzeit-)verhalten des verschlossenen Endlagers betreffen. Es geht vor allem um Ungewissheiten, die Zukunftswissen betreffen. Solche Ungewissheiten sind angesichts der viel zitierten eine Million Jahre, für die ein Lager Sicherheit gewährleisten soll, unausweichlich (Grunwald 2023). Es stellt sich daher die Frage, wie man jeweils am besten mit ihnen umgeht. Etwa beim Safety Case, im Standortauswahlverfahren, in politischen Entscheidungen, bei der Finanzierung und bei der technischen Umsetzung. Nicht immer sind sich auch die Wissenschaften einig. So finden sich Ungewissheiten z. B. aufgrund von wissenschaftlichem Dissens wie beim Beispiel der Diskussion um die Kupferkorrosion von Behältern in Schweden (Chaudry und Seidl 2021). Dort führten unterschiedliche Auffassungen über mögliche Korrosion von Kupfer zu einem kurzen Halt des Verfahrens und zu zusätzlichen Abklärungen und Diskussionen, ob die Ungewissheit gegen den eingeschlagenen Entsorgungsweg spricht.
Die Kommunikation von Ungewissheiten wird je nach Themenfeld durch Experten unterschiedlich angegangen. Auch das Publikum setzt sich aus Personen mit verschieden Hintergründen zusammen und nimmt diese Informationen unterschiedlich auf. Daher muss man sich Gedanken machen, wie man Ungewissheiten kommuniziert. In Deutschland sind Teile der Öffentlichkeit nicht ohne Grund gegenüber der Nukleartechnologie kritisch eingestellt (Brunnengräber 2016). Andere Teile zeigen sich bzgl. Risiken und Chancen ambivalent oder auch indifferent (Seidl 2021).

3 Die in diesem Band betrachteten Ungewissheiten

Der Sammelband ist in vier thematische Abschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt, Ungewissheit und Zukunftswissen, beschäftigt sich mit grundsätzlichen Fragen zum Thema. Der Beitrag von Armin Grunwald beleuchtet die Unsicherheit des Wissens über zukünftige Entwicklungen und die Spannung zwischen bekannter Ungewissheit und dem Wunsch nach Sicherheit. Er reflektiert erkenntnistheoretische Voraussetzungen für ein Handeln unter Ungewissheiten (worauf im abschließenden Kapitel des Herausgeberteams eingegangen wird). Rosa Sierra richtet den Blick auf die Möglichkeit von Hoffnung angesichts ungewisser Entwicklungen für die Zeitperiode von einer Million Jahre. Sie betrachtet Kants Begriff der Hoffnung und Humes Begriff der Zuversicht und prüft deren Verhältnis zu Verzweiflung und Pessimismus, die man infolge der Ungewissheiten für lange Zeiträume verspüren kann. Konrad Ott liefert eine ethisch-politische Reflexion zur aktuellen Entwicklung im laufenden Verfahren zur deutschen Endlagerung: die für die Ausführung der Lagerung zuständige Gesellschaft hat im Nov. 2022 eine Zeitplanung vorgestellt, die einen Zeitraum von 2046 bis 2068 für die mögliche Bestimmung eines Endlagerstandortes nennt. Diese Planung geht weit über das ursprünglich angestrebte Jahr 2031 hinaus und wird derzeit sehr kontrovers diskutiert. Zum Abschluss des ersten Abschnitts stellen Kevin Kramer und seine Koautoren aus der ständigen Projekt-Begleitgruppe AGBe die Sicht der Bürger und Bürgerinnen in TRANSENS dar. Sie fokussieren nicht auf einen bestimmten Ungewissheitstyp oder einen Aspekt des Entsorgungspfades, sondern erläutern an verschiedenen Beispielen, wie sie die Ungewissheiten, über die im Projekt gesprochen wird, wahrnehmen und wie sie die Veränderung ihrer Einstellungen erlebt haben.
Der zweite Abschnitt – Vergangenheit und Zukunft – spannt einen Bogen von einer historischen Betrachtung von Ungewissheiten durch Astrid Kirchhof bis zu rechtlichen Fragen bei Ulrich Smeddinck. Kirchhof zeichnet den Weg der Atomkraft in Deutschland und des Bestrebens nach Endlagerung der damit verbundenen Abfälle nach. Sie untersucht Zustimmung und Ablehnung der Atomkraft und der Endlagersuche sowie zivilgesellschaftliche Beteiligungsformen, die sich als Opposition in der ersten und als Öffentlichkeitsbeteiligung in der aktuellen Endlagersuche niederschlagen. Der Beitrag von Dirk Scheer und Koautoren thematisiert unterschiedliche Entsorgungspfade für den Umgang mit hochradioaktivem Abfall. Sie vergleichen verschiedene Pfade hinsichtlich ihrer Plausibilität und Umsetzungswahrscheinlichkeit und diskutieren sich daraus ableitende übergreifende Strategien der Ungewissheitsbewältigung. Achim Brunnengräber und Jan Sieveking behandeln in ihrem Beitrag das wichtige Thema der Finanzierung der Entsorgung. Ihre kritische Reflexion über den „Fonds zur Finanzierung der kerntechnischen Entsorgung“ weist auf mögliche Ungewissheiten hin, die sich etwa aus konjunkturellen Entwicklungen ergeben. Zuletzt in diesem Abschnitt wendet sich Ulrich Smeddinck der Ungewissheit als Regulierungsaufgabe des Standortauswahlgesetzes (StandAG) zu. Er diskutiert den Umgang der Rechtsordnung mit Ungewissheiten, beginnend mit der Entwicklung von reiner „Gefahrenabwehr“ zur „Risiko-Vorsorge“. Der Beitrag stellt die Elemente zum Umgang mit Ungewissheit im StandAG vor und ordnet sie rechtswissenschaftlich ein. Es wird klar, dass manche Ungewissheiten im Recht geregelt, andere durch das Recht verursacht werden.
Der dritte Abschnitt beschäftigt sich vornehmlich mit dem Themenfeld Ungewissheit und Sicherheit. Eingangs geben Meinert Rahn et al. einen Einblick in den systematischen Umgang mit Ungewissheiten bei der Standortwahl in der Schweiz. Die Systematik ist zentraler Teil des Sicherheitsnachweises (Stichwort Safety Case). Der Beitrag zeigt an konkreten Beispielen, wie das Schweizer Verfahren systematisch evaluiert, welche Ungewissheiten vorliegen und ob und wie diese behandelt werden müssen. Anne Eckhardt fragt in ihrem Beitrag „Wie viel Ungewissheit ist akzeptabel?“ und diskutiert Kriterien und Konstellationen zur Beurteilung von Ungewissheiten in Hinblick auf Arbeitsentscheidungen auf dem Entsorgungsweg. Sie unterscheidet dabei Sicherheitsrelevanz, Tragweite, Aussagenqualität und Behebungspotenzial von Ungewissheiten und stellt Ansätze vor, wie man die Akzeptabilität von Ungewissheiten beurteilen kann. Im Anschluss führen die zwei Beiträge von Klaus-Jürgen Röhlig in die Komplexität des „Safety Case“ ein, der als Entscheidungsgrundlage in Bezug auf verschiedene Phasen des Endlagerprojekts betrachtet wird (von der Standortauswahl bis zum verschlossenen Endlagerbergwerk). Der erste Beitrag beschäftigt sich mit der Definition und der Methodik des Safety Case und schließt u. a. mit dessen Relevanz für Entscheidungen der Vorhabenträgerin, für Genehmigungsentscheidungen der verantwortlichen Behörde sowie für politische Entscheidungen. Ein zweiter Beitrag widmet sich der qualitativen und quantitativen Methoden bei der Bewertung der Langzeitsicherheit von Endlagern im Safety Case. Von einer interdisziplinären Zusammenarbeit zur Eruierung von Ungewissheiten bei Parameterbestimmungen in Modellierungsansätzen berichten Henriette Muxlhanga et al. Der Beitrag stellt aus arbeits- und organisationspsychologischer Perspektive dar, welchen Einfluss der ‚menschliche Faktor‘ auf die Prognose des Langzeitverhaltens der Geologie mittels numerischer Simulationen hat. So unterscheiden sich die Annahmen verschiedener Modellierer und demnach auch die simulierten Ergebnisse.
Der vierte und letzte Abschnitt des Bandes beschäftigt sich mit der Kommunikation von Ungewissheiten. In einem ersten Beitrag berichten Roman Seidl und Kollegen über Ergebnisse eines Onlineexperiments zur Kommunikation und Wahrnehmung wissenschaftlicher Ungewissheiten. Sie untersuchten den Einfluss von verschiedenen Faktoren (z. B. numerische Fähigkeiten oder Einstellungen) auf das Vertrauen in zwei unterschiedliche Darstellungsarten von Dosisberechnungen. Der Beitrag von Dirk-Alexander Becker et al. erläutert die modelltechnischen Details des psychologischen Experiments. Sie geben Einblick in zwei unterschiedliche Berechnungsansätze (deterministische und probabilistische) für die Dosisabschätzung und mögliche Darstellungen der dazugehörigen Ungewissheiten. Der Beitrag wirft ein Licht darauf, wie Ungewissheiten in den modellbasierten Sicherheitsaussagen von Laien bewertet werden. Frank Becker und Margarita Berg beschäftigen sich mit Narrativen im Kontext der Endlagerung. Narrative als stimmige Geschichten bzw. Darstellungen einer Reihe von Ereignissen können als sinn- und wertstiftende Erzählungen die Einschätzung von Ungewissheiten bei der Entsorgung hochradioaktiver Abfälle beeinflussen.
Der Sammelband kann bei aller Vielfalt nicht alle Facetten von Ungewissheiten bei der Endlagerung abdecken. Eine besondere Rolle spielt in der öffentlichen Wahrnehmung wohl auch das Thema an sich. Die meisten Menschen wissen relativ wenig über die genauen Abläufe der Standortauswahl (Götte und Ludewig 2020). Eine gewisse kritische Distanz ist darauf zurückzuführen, dass generell Risiken unbekannter Technologien als höher eingeschätzt werden im Vergleich zu bekannten Risiken. Nukleartechnologien werden allgemein als besonders bedrohlich wahrgenommen, was zum Teil damit zusammenhängt, dass die Technologie zwar nicht mehr neu, aber dennoch der Öffentlichkeit fremd ist (Slovic 1987).

4 Handeln unter Ungewissheit

Ob der vielfältigen Ungewissheiten in den verschiedensten Bereichen kann der Eindruck entstehen, dass man noch gar nicht bereit sei, ein solches Vorhaben zu meistern. Auch tauchen immer wieder grundsätzliche Fragen auf, ob die finale Lagerung von hochradioaktiven bzw. wärmeentwickelnden Abfällen überhaupt sinnvoll und langfristig nicht doch zu gefährlich sei. Solange man über etwas noch nicht 100 %ig gewiss sei, müsse man eben so lange warten, bis es soweit ist. Aber: Nicht-Handeln ist eben auch ein Handeln – es gibt gemeinhin kein Nicht-Handeln. Vor diesem Hintergrund ist es genau daher wichtig, Ungewissheiten aus verschiedenen Perspektiven zu thematisieren, um sie besser einschätzen und damit gute und fundierte Entscheidungen treffen zu können. Das abschießende Kapitel von Anne Eckhardt et al. wirft den Blick daher auf die Notwendigkeit, auch unter ungewissen Umständen zu entscheiden und zu handeln, denn Nichthandeln bedeutet die Verlängerung des als unerwünscht erkannten Status Quo. Die Alternative wäre keine Einlagerung der Abfälle in tiefengeologische Schichten, sondern weitere – ebenfalls mit Risiken und Ungewissheiten behaftete – Langzeit(Zwischen)lagerung an der Oberfläche. Ein klassischer Trade-Off bei einem Wicked Problem (Pohl et al. 2017) für das es keine alle Seiten zufriedenstellende eindeutige Lösung gibt.
So trägt der Sammelband doppelt zum Gelingen des Endlagerungsvorhabens bei: Einerseits wird der eingeforderten Transparenz genüge getan, indem der Stand der Forschung auch jeweils die Ungewissheiten benennt. Andererseits müssen auch unter dem Eindruck von Ungewissheit Entscheidungen getroffen werden, müssen wir handlungsfähig bleiben. Nur, weil man etwas nicht genau weiß, sondern z. B. mittels Simulationen und mathematischen Modellen abschätzen muss, heißt das nicht, dass sich das Problem in Luft auflöst. Es gilt, Verantwortung zu übernehmen und eine Lösung für kommende Generationen zu finden für ein Problem, das frühere Generationen geschaffen haben.
Dieser Beitrag ist im Rahmen des Vorhabens TRANSENS entstanden, einem Verbundprojekt, in dem 16 Institute bzw. Fachgebiete von neun deutschen und zwei Schweizer Universitäten und Forschungseinrichtungen zusammenarbeiten. Das Vorhaben wird vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz (BMUV) aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages und im Niedersächsischen Vorab der Volkswagenstiftung vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) von 2019 bis 2024 gefördert (FKZ 02E11849A-J).
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
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Literatur
Zurück zum Zitat Brunnengräber A (Hrsg) (2016) Problemfalle Endlager: Gesellschaftliche Herausforderungen im Umgang mit Atommüll. Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden Brunnengräber A (Hrsg) (2016) Problemfalle Endlager: Gesellschaftliche Herausforderungen im Umgang mit Atommüll. Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden
Zurück zum Zitat Chaudry S, Seidl R (2021) Expert*innendissens und das reversible Verfahren der Suche nach einem Endlagerstandort für hochradioaktive Abfälle. In: Brohmann B, Brunnengräber A, Hocke P, Isidoro Losada AM (Hrsg) Robuste Langzeit-Governance bei der Endlagersuche, S 325–347 Chaudry S, Seidl R (2021) Expert*innendissens und das reversible Verfahren der Suche nach einem Endlagerstandort für hochradioaktive Abfälle. In: Brohmann B, Brunnengräber A, Hocke P, Isidoro Losada AM (Hrsg) Robuste Langzeit-Governance bei der Endlagersuche, S 325–347
Zurück zum Zitat Götte S, Ludewig Y (2020) Endlagersuche in Deutschland: Wissen, Einstellungen und Bedarfe – wiederholte repräsentative Erhebung (EWident); Zwischenbericht zur ersten Bevölkerungsbefragung im Jahr 2020. urn:nbn:de:0221–2021031926223 Götte S, Ludewig Y (2020) Endlagersuche in Deutschland: Wissen, Einstellungen und Bedarfe – wiederholte repräsentative Erhebung (EWident); Zwischenbericht zur ersten Bevölkerungsbefragung im Jahr 2020. urn:nbn:de:0221–2021031926223
Zurück zum Zitat Grunwald A (2023) Offene Zukunft und unsicheres Zukunftswissen: die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle. In: Eckhardt A, Becker F, Mintzlaff V, Scheer D, Seidl R (Hrsg) Entscheidungen für die Zukunft: Ungewissheiten bei der Entsorgung hochradioaktiver Abfälle. Springer Grunwald A (2023) Offene Zukunft und unsicheres Zukunftswissen: die Endlagerung hochradioaktiver Abfälle. In: Eckhardt A, Becker F, Mintzlaff V, Scheer D, Seidl R (Hrsg) Entscheidungen für die Zukunft: Ungewissheiten bei der Entsorgung hochradioaktiver Abfälle. Springer
Zurück zum Zitat Pohl CE, Truffer B, Hirsch-Hadorn G (2017) Addressing Wicked Problems through Transdisciplinary Research. Oxford University Press Pohl CE, Truffer B, Hirsch-Hadorn G (2017) Addressing Wicked Problems through Transdisciplinary Research. Oxford University Press
Metadaten
Titel
Die Vielfalt der Ungewissheit bei der Entsorgung hochradioaktiver Abfälle
verfasst von
Roman Seidl
Frank Becker
Anne Eckhardt
Volker Mintzlaff
Dirk Scheer
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-42698-9_1