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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

1. Einleitung

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Zusammenfassung

Nachhaltige Investments gewinnen zunehmend an Bedeutung. Ersichtlich wird das am wachsenden Markt für nachhaltige Investments, der unter Berücksichtigung aller Anlagestrategien im Jahr 2020 weltweit ca. 35,3 Billionen US-Dollar umfasst. Im Vergleich zu 2018 verzeichnet der Markt ein Wachstum in Höhe von 15 %.

1.1 Hintergrund und Erkenntnisinteresse

Nachhaltige Investments gewinnen zunehmend an Bedeutung. Ersichtlich wird das am wachsenden Markt für nachhaltige Investments, der unter Berücksichtigung aller Anlagestrategien im Jahr 2020 weltweit ca. 35,3 Billionen US-Dollar umfasst. Im Vergleich zu 2018 verzeichnet der Markt ein Wachstum in Höhe von 15 %. Insgesamt impliziert dieser Markt mittlerweile 35,9 % aller professionell verwalteten Vermögen (Global Sustainable Investment Alliance (GSIA) 2021, S. 9).
Bei der Beschreibung dieses Trends werden oftmals auch andere Begrifflichkeiten wie z. B. Social Responsible Investment (SRI)1 verwendet, die unterschiedlichen definitorischen Beschreibungen zugrunde liegen, aber im Grunde Ähnliches meinen (Sparkes und Cowton 2004, S. 46; Eccles und Viviers 2011; Cadman 2011).
Busch et al. (2016, S. 305) versuchen, den gemeinsamen Kern dieser Beschreibungen herauszustellen, indem sie nachhaltige Investments wie folgt definieren: „investments that seek to contribute toward sustainable development by integrating long-term ESG criteria into investment decisions. With this scope of sustainable investments, investors’ financial objectives are combined with primarily nonfinancial concerns.“
Diese Arbeit folgt dem Verständnis von nachhaltigen Investments als Investitionen, die durch eine Integration von langfristig ausgerichteten ökologischen, sozialen und Governance-Kriterien in der Investitionsentscheidung versuchen, einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung zu leisten. Es werden durch nachhaltige Investments daher sowohl finanzielle als auch nicht-finanzielle Ziele verfolgt.
Eine zentrale Rolle spielen dabei Nachhaltigkeitsratings, da viele Investoren für die Nachhaltigkeitsinformationen auf diese Ratings zurückgreifen (Umweltbundesamt (UBA) 2017, S. 7).
Nachhaltigkeitsratings sind Bewertungen zu Unternehmen, Ländern, Finanzprodukten oder -fonds, die auf vergleichenden Auswertungen zu Ansätzen, Berichterstattungen, Strategien oder zur Performance im Zusammenhang mit Nachhaltigkeitsthemen basieren. Die vergleichende Bewertung erfolgt in Bezug auf durch die Nachhaltigkeitsratingagentur vorgegebene Kriterien oder in Bezug auf den Wettbewerber. Einige Nachhaltigkeitsratings umfassen zugleich ökologische, soziale und Governance-Kriterien in einem Rating, während andere Nachhaltigkeitsratings sich auf einen bestimmten Aspekt von Umwelt, Sozialem oder Governance fokussieren (Europäische Kommission, Generaldirektion Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion 2021, S. 58).
Aus wissenschaftlicher Sicht bilden finanzwissenschaftliche Studien die meistverbreitete Untersuchungsform zu nachhaltigen Investments. Es gibt mittlerweile zahlreiche Studien im Bereich der Finanzwirtschaft, die untersuchen, wie sich eine gute Nachhaltigkeitsleistung auf den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens bzw. des Portfolios auswirkt. Eine Übersicht zu den über 2000 Studien bietet die Metastudie von Friede et al. (2015), die belegt, dass es einen Business Case für nachhaltige Investments gibt. Über 90 % der Studien finden einen nicht negativen Zusammenhang zwischen der Nachhaltigkeitsleistung und der Finanzleistung der Unternehmen, und die Mehrheit der Studien stellt eine positive Korrelation fest, was sich auch über den Zeitverlauf als stabil erweist.
Aus der finanzwissenschaftlichen Sicht besteht also die wesentliche Begründung für eine Ausrichtung an einer nachhaltigen Entwicklung darin, dass sie wirtschaftlich ist. Damit liegt der Untersuchungsschwerpunkt jedoch nur auf dem einen Ziel nachhaltiger Investments – nämlich dem, welchen wirtschaftlichen Effekt die Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsbewertungen hat. Eine weitere Studie in diesem Bereich scheint wenig neues Wissen generieren zu können. Es wurde aber bisher kaum untersucht, welche Bedeutung eine solche Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsleistung für das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung hat. Der Fokus soll daher in dieser Arbeit auf dem zweiten genannten Ziel liegen, es ist also zu untersuchen, welche Bedeutung Nachhaltigkeitsratings für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft haben.

1.2 Bisherige Untersuchungsperspektiven

Zur Annäherung an den Forschungsansatz dieser Arbeit werden im folgenden Abschnitt Studienkonzepte dargestellt, die sich bereits mit der gesellschaftlichen Dimension bzw. der Nachhaltigkeitsdimension von Nachhaltigkeitsratings auseinandergesetzt haben.
Es gibt einige Studien, die untersuchen, ob Unternehmen in einem nachhaltigen Fond nachhaltiger sind als in konventionellen Fonds, indem sie die Nachhaltigkeitsleistung der einzelnen Unternehmen gemäß der Nachhaltigkeitsratings vergleichen (Kempf und Osthoff 2008; Hirschberger et al. 2012; Nitsche und Schröder 2015; Bauckloh et al. 2017). Diese Untersuchungen ermöglichen zwar, die Aussage darüber zu treffen, ob Nachhaltigkeitsfonds tatsächlich Unternehmen nach ihrer Nachhaltigkeitsbewertung auswählen. Allerdings lässt sich daraus nicht ableiten, dass nachhaltige Fonds tatsächlich bessere gesellschaftliche Auswirkungen haben als konventionelle Fonds. Darüber hinaus zeigt es nicht, ob bzw. welche Wirkungen von Nachhaltigkeitsratings auf eine nachhaltige Entwicklung ausgehen. Für die Betrachtung der gesellschaftlichen Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings muss eine breitere Perspektive eingenommen werden. Investoren können keine direkten Auswirkungen auf die Gesellschaft haben, denn sie haben nur einen Einfluss auf die Unternehmen, in die sie investieren, welche wiederum Einfluss auf die Veränderung von gesellschaftlichen und ökologischen Parametern haben (Brest et al. 2018). Die Bedeutung der Nachhaltigkeitsratings für eine nachhaltige Entwicklung kann daher nur über deren Wirkung auf Unternehmen erschlossen werden.
Zur unternehmerischen Bedeutung der Nachhaltigkeitsratings gab es bereits in verschiedenen Forschungsdisziplinen Untersuchungen. In den Wirtschaftswissenschaften wurden die Nachhaltigkeitsratings mithilfe der neuen Institutionenökonomik als Schnittstelle zwischen Investor und Unternehmen analysiert. Aus Sicht der Prinzipalagententheorie kann die Informationsasymmetrie zwischen Unternehmen und Investoren durch Nachhaltigkeitsratings reduziert werden (Windolph 2011, S. 40). Nachhaltigkeitsratings reduzieren zudem Transaktionskosten, indem sie sich an bereits bestehende Normen, Standards und Konventionen orientieren, was den Aufwand für die Datenerhebung und -aufbereitung reduziert (Schäfer 2012, S. 24). Dies erklärt zwar die Funktion der Nachhaltigkeitsratings aus einer ökonomischen Rationalität, sie werden jedoch nicht in einen größeren Zusammenhang gestellt, weshalb auch keine Aussage über den Einfluss der Nachhaltigkeitsratings auf die nachhaltige Entwicklung getroffen werden kann. Zur Ermittlung der Bedeutung der Nachhaltigkeitsratings für eine nachhaltige Entwicklung sollte sich die Theorie mit der Beziehung zwischen Unternehmen und der Gesellschaft befassen. Diesbezüglich scheint der sozialwissenschaftliche Ansatz des Neoinstitutionalismus interessant, da er untersucht, wie sich Institutionen aus der Umwelt der Organisation, wie beispielsweise Normen, Erwartungen und Leitbilder auf die Strukturen und Operationen von Organisationen auswirken (Meyer und Rowan 1977). Mit dem Fokus auf die institutionellen Umwelten versucht der neue soziologische Institutionalismus darauf hinzuweisen, dass es für das Überleben von Organisationen nicht mehr ausreicht, rein auf wirtschaftliche Effizienz zu achten, wie es üblicherweise in den wirtschaftswissenschaftlichen Theorien angenommen wird (Hiß 2006, S. 129). Entscheidend für die Legitimität ist die Befolgung von institutionalisierten Regeln, die als Bestimmungen in der Gesellschaft reziprok entstandene Typisierungen oder Interpretationen darstellen (Berger und Luckmann 1967, S. 54). Wenn Organisationen die Erwartungen erfüllen, legitimieren sie sich gegenüber der technischen und institutionellen Umwelt. Dadurch erhalten sie die Ressourcen, die für das eigene Überleben bzw. die Selbsterhaltung notwendig sind (Meyer und Rowan 1977).
So zeigt Slager (2015) beispielsweise, dass Nachhaltigkeitsindizes (die auf der Bewertung durch Nachhaltigkeitsratings basieren) durch institutionelle Arbeit einen Standard für sozialverantwortliches Verhalten von Unternehmen erzeugen und sich die Reaktionen der Unternehmen auf die Erwartungen der Nachhaltigkeitsratingagenturen unterscheiden: Zum einen gibt es die performative Reaktion, bei der neue Leitlinien, Managementsysteme und Berichterstattungspraktiken verändert werden, und zum anderen die ostensive Reaktion, durch die ein einheitliches Verständnis von Nachhaltigkeit erzeugt wird.
Diese Erkenntnisse werden jedoch nicht in einen größeren gesellschaftlichen Kontext gestellt, weshalb auch keine Aussage darüber getroffen werden kann, welche Bedeutung Nachhaltigkeitsratings für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft haben.
Die Herausforderung des Neoinstitutionalismus besteht darin, dass die Theorie Anschluss an eine gesellschaftliche Theorie sucht, aber an die Stelle der Gesellschaft treten einfach die Institutionen. Institutionen lassen sich aber nicht mit der Gesellschaft gleichsetzen. Zwar wird in der Theorie beschrieben, dass die Erwartungen aus normativen Verpflichtungen entstehen, aber es bleibt unklar, wie diese entstehen und welche Bedeutung der Gesellschaft zukommt (Tacke 1999, S. 102 ff.).
Zudem erklärt der Neoinstitutionalismus die Veränderung von Unternehmen überwiegend durch äußeren Einfluss und unterschätzt daher den Veränderungsdrang, der von den Unternehmen selbst ausgeht. Die meisten empirischen Untersuchungen zum Neoinstitutionalismus befassen sich mit dem organisationalen Feld und den Auswirkungen der Gesellschaft auf die Organisation. Es gibt aber auch vereinzelte Untersuchungen, die die Auswirkung der Organisation auf die Gesellschaft betrachten. Die neoinstitutionalistische Mirkofundierung erarbeitete Theorien, mit denen versucht wurde, das Eigenleben von Organisationen als selbständigen Akteuren stärker einzubeziehen. Die meisten Arbeiten befassen sich jedoch weiterhin eher mit dem organisatorischen Feld, da darin die Stärke des institutionellen Ansatzes liegt. Er beschreibt, dass die Handlungen und Werte von Akteuren und Organisationen nicht aus sich selbst heraus entstehen, sondern durch die Gesellschaft und soziale Einbettung geprägt werden. Wenn die Veränderung von Unternehmen zu stark aus sich selbst heraus erklärt würde, bliebe vom theoretischen Kern des Neoinstitutionalismus nicht mehr viel übrig (Senge 2011, S. 154 ff.).
Bisherige Forschungsansätze überprüfen die Verwendung von Nachhaltigkeitsratings, geben eine ökonomische Begründung für die Existenz von Nachhaltigkeitsratings oder betrachten den konkreten Einfluss der Nachhaltigkeitsratings auf Unternehmen. Bisher wurden Nachhaltigkeitsratings aber nicht gesellschaftstheoretisch betrachtet, weshalb bisher auch keine Aussage darüber getroffen werden kann, welche Bedeutung Nachhaltigkeitsratings für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft haben.

1.3 Begründung einer systemtheoretischen Governanceperspektive

Herleitung
Ein weiteres interessantes Phänomen gibt einen Hinweis darauf, welche Theorie für den Untersuchungsgegenstand besser geeignet ist: Eine Besonderheit bei den Nachhaltigkeitsratings besteht darin, dass nachhaltige Investments eher aus dem Wirtschaftssystem selbst heraus entstanden sind (Louche et al. 2012, S. 303), ohne dass es einen bewussten Versuch der Politik gab, einen solchen Ansatz zu initiieren. Es erscheint zunächst paradox, dass sich das Wirtschaftssystem trotz wirtschaftlicher Rationalität scheinbar eigenständig gesamtgesellschaftlichen Interessen widmet. Bei der Berücksichtigung von gesellschaftlichen und ökologischen Kriterien im Wirtschaftssystem handelt es sich daher möglicherweise um eine Selbststeuerung. Die Bedeutung der Nachhaltigkeitsratings für eine nachhaltige Entwicklung soll daher aus einer governancetheoretischen Perspektive betrachtet werden, da mit dieser auch selbststeuernde Prozesse beobachtet werden können.
In Abgrenzung zu einer akteurzentrierten Steuerungstheorie ist eine Governancetheorie eher institutionalistisch. Während die akteurzentrierte Steuerungstheorie aus einem klassischen Staatsverständnis resultiert, bei dem die Gestaltung den legitimierten politischen Instanzen zugeschrieben wird, liegt der Fokus von Governance weniger auf dem handelnden Steuerungssubjekt als auf den Regelungsstrukturen und deren Wirkung (Mayntz 2004, S. 7).
Zu diesem Steuerungsverständnis gehört der Ansatz „Governance without Government“ (Rosenau und Czempiel 2009), dem zufolge auch private Akteure in die gesellschaftliche Steuerung involviert sind (Héritier 2002, S. 3), wodurch es auch keine klare Trennung mehr zwischen Steuerungssubjekt und Steuerungsobjekt gibt (Mayntz 2004, S. 7). Der Ursprung des Governanceverständnisses liegt eigentlich in den Wirtschaftswissenschaften, nämlich in der Transaktionskostentheorie, der zufolge die Koordination von ökonomischen Handlungen nach Markt und Hierarchie differenziert wird (Williamson 1979) und das Augenmerk somit auf der Existenz von Regeln und deren Durchsetzung liegt (Benz 2003, S. 18).
Im Fall der Governance liegt der Fokus daher nicht auf dem Politischen und den interventionalistischen Handlungen der Akteure, sondern eher auf den Regelungsstrukturen und deren Wirkung. Besonders im Fall von Corporate Governance wird deutlich, dass es hierbei eine Überschneidung mit der institutionalistischen Denkweise gibt. Der Begriff „Governance“ wurde, ausgehend von dem ökonomischen Verständnis, zunehmend in der Politikwissenschaft übernommen (Mayntz 2004, S. 5). Wegen der vielfältigen Anwendungsbereiche (Benz et al. 2007, S. 9) gibt es keine einheitliche Definition zum Begriff „Governance“ (Benz 2004, S. 12). „Governance“ umfasst laut Benz Regelungen, die sowohl von privaten als auch von öffentlichen Institutionen ausgehen können (Benz 2004, S. 17). Dies impliziert beispielsweise sowohl den kooperativen Staat (Mayntz 2002, S. 21) im Sinne einer bestimmten Form der Steuerung zwischen Staat und Gesellschaft als auch eine Selbststeuerung der privaten Akteure (Héritier 2002, S. 3).
Da an Nachhaltigkeitsratings sowohl Unternehmen als auch der Finanzmarkt beteiligt sind, scheint eine wirtschaftsbezogene Governanceperspektive denkbar, die die Chancen und Barrieren der institutionellen Steuerung innerhalb der Wirtschaft betrachtet (Kenis und Schneider 1996, S. 11). Dabei wird zwischen einer Makro-, Meso- und Mikroebene differenziert (Lütz 2007, S. 391). Auf der Makroebene werden insbesondere Kapitalismusformen verglichen, die durch unterschiedliche Institutionen bestimmen, wie Unternehmen ihre Koordinationsleistung erfüllen (Soskice und Hall 2001). Auf der Mesoebene werden Sektoren oder regionale Produktionszusammenhänge analysiert (Crouch et al. 2004). Auf der Mikroebene geht es insbesondere um das Thema „Corporate Governance“, bei dem sowohl innere als auch äußere Einflüsse und Machtkonstellationen von Akteuren von Organisationen betrachtet werden (O’Sullivan 2001). Den Ursprung hat Corporate Governance in den immer weiter auseinanderdriftenden Interessen von Eigentümern und Unternehmensführung (Berle und Means 2010). Mittlerweile wird aber in Corporate-Governance-Studien auch die Berücksichtigung von sozialen und ökologischen Aspekten in der Unternehmensführung untersucht. Im Rahmen von Corporate Social Responsibility umfasst das insbesondere freiwillig verwendete Instrumente, wozu auch Nachhaltigkeitsratings gezählt werden (Eberle 2007, S. 378 f.). Mit der Unterscheidung verschiedener Ebenen wäre die wirtschaftsbezogene Governanceperspektive eine geeignete Untersuchungsperspektive, da Nachhaltigkeitsratings sowohl für Organisationen als auch für die Gesamtwirtschaft relevant zu sein scheinen. Von besonderem Interesse für die Untersuchung von Nachhaltigkeitsratings erscheint die Mikroebene, da betrachtet werden soll, wie die Nachhaltigkeitsratingagenturen auf Unternehmen wirken, und zum anderen die Makroebene, da nachhaltige Investments ein industrieunabhängiges Phänomen von globaler Tragweite darstellen. Das Ziel von Corporate Governance besteht jedoch vor allem in der Sicherstellung von ökonomischen Interessen (Werder 2009, S. 9). Damit läge der Fokus der Untersuchung wieder überwiegend auf den wirtschaftlichen Effekten und nicht auf den Auswirkungen auf eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft. Eine Alternative wäre daher der Governanceansatz auf globaler Ebene, der jedoch überwiegend mit empirischen Vergleichen, die auch unterschiedliche Zeitpunkte umfassen können, arbeitet, aber sich nicht mit den Mechanismen der Transformationsprozesse des Wirtschaftssystems auseinandersetzt (Lütz 2007, S. 398). Da es sich bei der nachhaltigen Entwicklung um einen Wandel handelt, hilft dieser Theorieansatz nicht weiter, um den Einfluss der Nachhaltigkeitsratings auf diese Veränderung zu erfassen. Eine wirtschaftsbezogene Governanceperspektive ist weder auf der Mikroebene (durch den wirtschaftlichen Fokus) noch auf der Makroebene (keine Erklärung von Transformationen) dazu geeignet, die Bedeutung der Nachhaltigkeitsratings für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft zu untersuchen.
Grundsätzlich wird Governance aber auch nicht als Theorie, sondern als eine bestimmte Perspektive auf die Wirklichkeit verstanden. Governance stellt eher eine bestimmte analytische Perspektive dar, die Arten von Koordinationsstrukturen untersucht, also welche Strukturen, Mechanismen und Wirkungen bei Interdependenzen zwischen Akteuren vorliegen (Benz et al. 2007, S. 14 ff.). Für die Untersuchung von Nachhaltigkeitsratings wirkt besonders die Perspektive von Global Governance interessant, da Nachhaltigkeitsratings mittlerweile eine globale Reichweite erreicht haben (Louche et al. 2012). Aus einer normativen Sicht beschreibt Global Governance Konzepte zur Bewältigung der Herausforderungen, die durch die Globalisierung entstanden sind (Behrens 2004, S. 104 f.).
Damit verfolgt Global Governance ein ähnliches Ziel wie nachhaltige Investments, die einen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung anstreben. Ähnlich zur Diskussion über Governance gibt es auch für Global Governance bisher keine eindeutige Definition (Behrens 2004, S. 104). Generell gibt es neben den normativen Ansätzen, die Konzepte abbilden, um möglichst effektiv globale Probleme zu lösen, auch eine analytische Perspektive, die untersucht, wie internationale Systeme politisch gesteuert und koordiniert werden (Behrens und Reichwein 2007, S. 311). Zwar werden dafür oft institutionentheoretische Ansätze verwendet, um die Steuerungswirkung von Institutionen zu untersuchen, allerdings können auch Ansätze der autopoietischen Systemtheorie verwendet werden, um insbesondere selbststeuernde Prozesse mit einer gewissen Eigendynamik governancetheoretisch zu untersuchen (Benz 2004, S. 27). Aus systemtheoretischer Sicht bezeichnet Global Governance „die Steuerung globaler Kontexte durch Organisationen, Institutionen, Regelsysteme, Vertragswerk und andere Vereinbarungen“ (Willke 2006, S. 5). Da es keine Weltregierung gibt, entwickeln sich Governanceformen, die zu einer Selbststeuerung und Kontextsteuerung von lateralen Weltsystemen, wie beispielsweise dem Wirtschaftssystem, führen. Die Systemtheorie kritisiert bestehende Theorien zu Global Governance, da diese einen zu einseitigen Fokus haben und damit der Komplexität von Globalisierungsprozessen nicht gerecht werden (Willke 2006, S. 5 f.). Da es sich auch bei den Nachhaltigkeitsratings mit der Beteiligung von Unternehmen, der Finanzwirtschaft und der Gesellschaft scheinbar um einen Selbststeuerungsprozess des Wirtschaftssystems handelt, der sehr komplex ist, soll in dieser Arbeit eine systemtheoretische Governanceperspektive eingenommen werden.
Während Ansätze der wirtschaftsbezogenen Governanceperspektive einen zu starken Fokus auf wirtschaftliche Ziele legen oder keine Transformationsprozesse der Wirtschaft berücksichtigen, ermöglicht eine systemtheoretische Governanceperspektive, komplexe Selbststeuerungsprozesse des Wirtschaftssystems zu beschreiben, und ist daher besser geeignet, die Bedeutung der Nachhaltigkeitsratings für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft zu untersuchen.
Vorteile
Ein wesentlicher Vorteil einer systemtheoretischen Governanceperspektive besteht darin, dass die Systemtheorie eine sehr detaillierte Beschreibung von Gesellschaft und ihrer Funktionsweise zur Verfügung stellt.
Das Ziel der Systemtheorie nach Luhmann ist der Aufbau einer Supertheorie, die die verschiedenen Bereiche der Soziologie zusammenführt und somit einen generalisierten Überbau dieser Wissenschaft darstellt. Zu diesem Zweck abstrahiert sie vollkommen von einer Betrachtung des Individuums (Luhmann 1984, S. 7). Dies stellt einen Paradigmenwechsel für die Beschreibung der Gesellschaft dar, da das System nicht mehr als Gesamtheit seiner Teile, sondern als Differenz von System und Umwelt dargestellt wird (Luhmann 1984, S. 22). Die Systemtheorie möchte als possibilistische Theorie nicht die Wirklichkeit beschreiben, sondern darstellen, wie etwas Reales innerhalb der Möglichkeiten entstehen kann, also wie die hohe Unwahrscheinlichkeit der Evolution von Systemen wahrscheinlich wird (Schützeichel 2003, S. 61). Durch die detaillierte Beschreibung der Gesellschaft ist es mit der Systemtheorie möglich, Nachhaltigkeitsratings in einen gesellschaftlichen Kontext zu stellen und deren Bedeutung für eine nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft zu beschreiben.
Es gab zwar Versuche, den intentionalen Akteur in die Systemtheorie zu integrieren (Schimank 1985), aber die Stärke der Systemtheorie besteht gerade darin, dass soziale Systeme nicht aus Personen, sondern aus Kommunikation bestehen.
Erst durch diese Trennung von Menschen und Systemen wird die Selbstreferenz von sozialen Systemen ersichtlich. Erst dadurch kann die eigene Funktionsweise des Systems nachvollzogen werden. Nur durch diese Perspektive wird auch ersichtlich, welche Probleme sich bei einer Steuerung von komplexen Systemen ergeben (Willke 2007, S. 25).
Ein emergentes System entsteht nur, wenn die Ordnungsstruktur für Einschränkungen der Optionen der Elemente sorgt. Durch die Einschränkung entstehen neue Eigenschaften des Systems, das mehr ist als die Summe seiner Teile (Willke 2007, S. 32). Kollektive Intelligenz entsteht nicht aufgrund der Intelligenz der Mitglieder, sondern ist abhängig von den Strukturen, Prozessen, Regeln des sozialen Systems (Willke 2007, S. 202). Ein systemtheoretischer Fokus auf die Nachhaltigkeitsratings als soziale Systeme macht es möglich, die emergenten Eigenschaften auf systemischer Ebene zu betrachten.
Die Systemtheorie ist nicht eine einzige Theorie, sondern besteht eher aus einem Netzwerk von Theorien, die mit einem loose coupling miteinander verknüpft werden. Es geht aus epistemologischer Sicht in der Systemtheorie also nicht um die Erarbeitung einer bestimmten Wirklichkeit, indem verschiedene Theorien streng deduktiv miteinander verbunden werden, sondern eher um eine Beschreibung der Realität, indem unterschiedliche Sichtweisen durch eine lose Kopplung von Theorien vernetzt werden. Luhmanns Theorie sozialer Systeme basiert auf unterschiedlichen Theorien. Er orientiert sich einerseits stark an systemtheoretischen Vorarbeiten, die durch Parsons (1951) geprägt sind, der eine soziologische Gesellschaftstheorie auf Grundlage des Zusammenschlusses von Netzwerktheorie, Kybernetik, Informationstheorie und allgemeiner Systemtheorie nach Bertalanffy (1968) erarbeitete. Darüber hinaus stützt sich Luhmann stark auf vier Gesellschaftstheorien, die er mit der Systemtheorie verbindet. Dazu gehören die Differenzierungstheorie, die Theorie soziokultureller Evolution, Kommunikationstheorien und die Theorie der Selbstbeobachtung, die sich nie als eigenständige Theorie entwickelt hat, sondern eher aus verschiedenen Konzepten besteht. Diese beiden großen Theoriekomponenten werden durch Interaktionstheorien und Organisationstheorien ergänzt. Dieses Netzwerk an Theorien bietet daher nicht nur eine sehr flexible Anwendung auf unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte, sondern ermöglicht auch die Integration von verschiedenen Theorien und Methoden, die unabhängig der Systemtheorie entstanden sind (Stichweh 2010, S. 21 ff.).
Mit den vielfältigen Begriffen ist die Systemtheorie gegenüber verschiedenen Wissenschaften anschlussfähig, wodurch sie besonders für interdisziplinäre Untersuchungen geeignet ist. Damit ist sie für die Untersuchung der gesellschaftlichen Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings angemessen, die sich zwischen Finanzwirtschaft, Wirtschaftswissenschaften, Soziologie und Politikwissenschaft bewegt.
Mit ihrer hohen Komplexität besitzt die Systemtheorie ein entsprechendes Auflösungsvermögen und kann damit die Brücke zwischen abstrakten und konkreten Themen schlagen und eignet sich folglich besonders gut, das Spannungsfeld zwischen Gesellschaft und Wirtschaft zu thematisieren (John et al. 2010b, S. 8). Da die Systemtheorie Komplexität ins Zentrum der Analyse stellt (Melde 2012, S. 51), scheint sie besonders gut geeignet, um die komplexen Zusammenhänge der Nachhaltigkeitsratings zu betrachten. Die Systemtheorie untersucht mit der Gesellschaft und den Funktionssystemen auf der Makroebene und mit Organisationen auf der Mikroebene unterschiedliche Ebenen (Melde 2012, S. 51) und ihre interdependenten Wirkungen. Damit können die Wirkungen von Nachhaltigkeitsratings sowohl auf unternehmerischer und wirtschaftlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene betrachtet werden. Die Systemtheorie bietet daher nicht nur die Möglichkeit, Nachhaltigkeitsratings gesellschaftlich einzuordnen, sondern auch einen tieferen Einblick in Organisationen, wodurch gleichzeitig die Wirkung von Nachhaltigkeitsratings in Organisationen beschrieben werden kann.
Viele betriebswirtschaftliche Theorien nutzen ein systemtheoretisches Verständnis zur Beschreibung von Organisationen, obwohl die Systemtheorie nie eine eigenständige Organisationstheorie geworden ist (Schreyögg 2003, S. 83 ff.). Ein wesentlicher Unterschied im Vergleich z. B. einer neoinstitutionalistischen Perspektive auf Organisationen besteht darin, dass sich Organisationen als autopoietische Systeme aus sich selbst heraus entwickeln (Luhmann 2000, S. 436 ff.). Mit einer konkreten Beschreibung über die Funktionsweise von Organisationen eignet sich die Systemtheorie daher besonders, um eine Veränderung von Unternehmen durch Selbststeuerung zu beschreiben, wie es auch bei den Nachhaltigkeitsratings angenommen wird. Auch im Nachhaltigkeitsmanagement werden systemtheoretische Überlegungen übernommen, da die bisherigen betriebswirtschaftlichen Instrumente nicht mehr ausreichen, um die komplexen Probleme von Nachhaltigkeit zu verarbeiten (Seidel 1999, S. 310). Die Systemtheorie eignet sich besonders wegen der Differenz zwischen System und Umwelt als Kern der Beobachtungsperspektive, um Nachhaltigkeit in seiner Mehrdimensionalität zu erfassen und soziale Systeme in Bezug auf ihre Umwelt, die sich sowohl aus der Gesellschaft und der ökologischen Umwelt als auch dem psychischen Bewusstsein zusammensetzt, zu analysieren (Melde 2012, S. 51). Die Systemtheorie kann daher besonders auch die Veränderungen von Organisationen in Bezug auf eine nachhaltige Entwicklung beschreiben, wie dies auch beim nachhaltigen Investment als Ziel verfolgt wird.
Eine Gemeinsamkeit zwischen Systemtheorie und Nachhaltigkeit besteht darin, dass sie sich beide mit der Erhaltung der Gesellschaft befassen. Während die Systemtheorie die Selbsterhaltung von Systemen betrachtet (Luhmann 2004, S. 56), geht es bei einer nachhaltigen Entwicklung um eine inter- und intragenerationale Gerechtigkeit (United Nations 1987, S. 37). Bis auf die Existenz von sozialen Systemen, die erkenntnistheoretisch nicht hinterfragt werden (Luhmann 1984, S. 30 f.), werden in der Systemtheorie keine ontologischen Annahmen verwendet (Luhmann 1984, S. 243 f.). Anstatt zu untersuchen, wie eine Norm, wie beispielsweise eine Gesamtrationalität, am besten umgesetzt werden kann, betrachtet die Systemtheorie, welche Konsequenzen eine solche Norm für die Gesellschaft hat (Luhmann 2000, S. 468). Die Systemtheorie arbeitet daher nicht mit Prinzipien, sondern mit Paradoxien, die es ermöglichen, die Operationsweise von Systemen zu beobachten (Luhmann 2000, S. 462 ff.). Dadurch wird auch Nachhaltigkeit nicht in seiner Normativität verwendet, sondern seine semantische und strukturelle Funktion analysiert (Melde 2012, S. 121 ff.). Die Systemtheorie erarbeitet keine Lösung für Umweltprobleme, sondern beschreibt nur, wie die Gesellschaft auf Umweltprobleme reagiert (Luhmann 1986, S. 249). Sie ist daher keine normative, sondern eine eher deskriptive Theorie, die aus der Beobachtung der Gesellschaft hervorgeht. Die Systemtheorie kann daher auch die Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings auf eine nachhaltige Entwicklung unabhängig von normativen Vorstellungen beschreiben.
Der wesentliche Vorteil einer systemtheoretischen Perspektive zur Ermittlung der Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings für eine nachhaltige Entwicklung besteht darin, dass die Systemtheorie im Gegensatz zu anderen Theorien sowohl eine umfassende Beschreibung der Gesellschaft als auch einen dezidierten Ansatz zur Funktionsweise von Organisationen zur Verfügung stellt. Dadurch können Nachhaltigkeitsratings in einen gesellschaftlichen Kontext gestellt und deren Einfluss auf Organisationen in der Tiefe betrachtet werden. Die Systemtheorie ermöglicht, durch interdisziplinäre Ansätze über verschiedene Ebenen hinweg eine Selbststeuerung durch Nachhaltigkeitsratings auf der systemischen Ebene mit emergenten Eigenschaften unabhängig vom Subjekt und Normativität zu beschreiben.
Grenzen
Eine systemtheoretische Governanceperspektive geht jedoch auch mit Einschränkungen in der Beobachtung einher, woraus auch Grenzen möglicher Ergebnisse resultieren. Da die Stärken der Systemtheorie zugleich ihre Schwächen darstellen, werden mit kritischeren Perspektiven auf die Systemtheorie die Grenzen dieser Arbeit aufgezeigt.
Nach Habermas besteht der wesentliche Nachteil der Systemtheorie in der deskriptiven Beschreibung und fehlenden Normativität. Es handelt sich nicht um eine kritische Theorie mit einer Utopie. Dadurch kann die Theorie keine gesellschaftlichen Veränderungen anstoßen, was eigentlich die Funktion einer soziologischen Theorie sein sollte, da die Systemtheorie keine Empfehlungen für den handelnden Menschen aussprechen kann (Habermas und Luhmann 1971, S. 142 ff.).
Scharpf äußert eine weitere Kritik gegenüber der Systemtheorie, die darin besteht, dass Akteure nicht als komplexe Systeme berücksichtigt werden und die Intransparenz von Systemen überschätzt wird, weshalb sie sich nicht ausreichend mit der Interaktion zwischen Akteuren auseinandersetzt und damit eine Steuerungsskepsis erzeugt (Wiesenthal 2006, S. 37). Eine tiefergehende Beschreibung des systemtheoretischen Steuerungsverständnisses der Gesellschaft erfolgt in Abschnitt 3.​3.​2.
Grundsätzlich sind für Luhmann jedoch Handlungstheorien keine Alternative, um komplexe Situationen zu erklären. Da in solchen Fällen Empfehlungen wegen unerwarteter Nebenwirkungen immer falsch liegen, müssen sie im Ergebnis immer scheitern (Wiesenthal 2006, S. 34). Nach Luhmann (1984, S. 244) wird in diesen Theorien die Bedeutung des Subjekts überschätzt. Zwar spielen Personen durchaus eine Rolle, da sie als psychische Systeme in der Umwelt (Luhmann 1986, S. 64) verortet werden. Das führt aber dazu, dass die Aktivitäten innerhalb von Personen und deren Wirkung nicht systemtheoretisch analysiert werden können. Die Wirkung von Motiven, Einstellungen, Überzeugungen und Glaubenssätze und die daraus resultierenden Handlungen in Bezug auf Nachhaltigkeitsratings können daher nicht im Rahmen dieser Arbeit untersucht werden.
Darüber hinaus kritisiert Scharpf in Bezug auf die gesellschaftliche Steuerung, dass die Systemtheorie nur ein sehr eingeschränktes Politikverständnis hat und damit Steuerungserfolge nicht sieht. Die Reduktion von Politik auf die Differenz von Regierung und Opposition führt dazu, dass von Politik nur eine Teilmenge der politischen Prozesse betrachtet wird (Wiesenthal 2006, S. 38).
Eine governancetheoretische Perspektive auf die Systemtheorie führt dazu, dass der Fokus noch stärker auf die Strukturen und deren Wirkungen gelenkt wird. In Governancetheorien wird angenommen, dass sich die Strukturen so gebildet haben, dass sie dem Allgemeininteresse dienen (Héritier 2002, S. 3).
Dies beschreibt jedoch nur einen Teil der Wirklichkeit, da auch Machtbeziehungen für die Entstehung von Strukturen eine Rolle spielen. Diese Perspektive auf die politische Wirklichkeit wird in Governancetheorien jedoch bewusst ausgeblendet, da eine Erweiterung der Theorie um die Machtstrukturen, nicht mehr das sichtbar zu machen vermag, was sie mit einem klaren Fokus auf Regelungsstrukturen sichtbar werden lassen kann (Mayntz 2004, S. 8).
Welche Rolle die Machtbeziehungen für die Bedeutung der Nachhaltigkeitsratings spielen, steht wegen der systemtheoretischen Governanceperspektive daher auch nicht im Zentrum dieser Arbeit.
Die Grenzen der systemtheoretischen Governanceperspektive bestehen in fehlender Normativität und in der Abstraktion von Akteuren, wodurch Motive nicht betrachtet werden. Die Rolle von Akteuren und deren Machtbeziehungen kann bei der Entstehung und der Bedeutung von Nachhaltigkeitsratings daher in dieser Arbeit nicht betrachtet werden. Zudem können für Nachhaltigkeitsratings auch keine individuellen Handlungsempfehlungen gegeben werden.

1.4 Fragestellung

Da die Systemtheorie mit Paradoxien und Differenzen arbeitet, wendet sie eine besondere Beobachtungsperspektive an, die auch in der Analyse der Nachhaltigkeitsratings eingenommen werden soll. Nach Luhmann (1997, S. 85) befasst sich die Systemtheorie mit der Fragestellung, „ob und wie Kommunikation eine Operation sein kann, die zur Emergenz und operativen Schließung eines eigenständigen sozialen Systems mit einer eigenen, nicht wahrnehmbaren (!), sondern nur denotierbaren Umwelt führt […][oder] wie eine Autopoiesis des Sozialen möglich ist“. Da die Systemtheorie von kontingenten Strukturen ausgeht, das heißt, weil es immer auch anders sein könnte, fragt die Systemtheorie nicht nach dem Was, sondern nach dem Wie (John et al. 2010c, S. 324). Nach Willke (1993, S. 130 f.) legen systemtheoretische Untersuchungen zwei Schwerpunkte: „Wie ist das, was ist überhaupt möglich? (Was sind die konstituierten Bedingungen der Möglichkeit eines bestimmten Systems in seiner spezifischen Umwelt?)“ und „Wozu ist das, was ist überhaupt notwendig? (Was sind die spezifischen Funktionen beobachtbarer Strukturen oder Prozesse für ein bestimmtes System in seiner gegebenen Umwelt?)“. Die Systemtheorie fragt daher, wie etwas entsteht und welche Konsequenz daraus folgt.
Mithilfe einer systemtheoretischen Governanceperspektive werden in dieser Arbeit „Nachhaltigkeitsratings als Steuerungsinstrument von Unternehmen für eine nachhaltige Entwicklung“ dargestellt. Zur Analyse, welchen Einfluss Nachhaltigkeitsratings auf eine nachhaltige Entwicklung haben, wird aus systemtheoretischer Sicht untersucht, welche Bedeutung Nachhaltigkeitsratings für die Gesellschaft aufweisen. Zum einen impliziert dies die Frage, warum Nachhaltigkeitsratings überhaupt existieren, zum anderen die Frage, welche Funktion Nachhaltigkeitsratings übernehmen. Zur Untersuchung der Ursache der Existenz von Nachhaltigkeitsratings wird die Fragestellung auf eine abstraktere systemtheoretische Ebene gehoben. „Warum existieren Nachhaltigkeitsratings?“ lässt sich intuitiv damit beantworten, dass Nachhaltigkeitsratings aufgrund eines nachhaltigen Wirtschaftssystems entstehen. Daraus lässt sich die Frage ableiten, wie ein nachhaltiges Wirtschaftssystem funktioniert. Damit stellt sich die Frage, wieso überhaupt eine Notwendigkeit für eine nachhaltige Entwicklung besteht, und in einer abstrakteren Form, wie soziale Systeme langfristig existieren können.
Daraus ergeben sich vom Abstrakten zum Konkreten folgende Thesen, die systemtheoretisch argumentativ erörtert werden.
  • Die Selbsterhaltung von Systemen wird durch neuen Sinn ermöglicht (Kapitel 2).
  • Gesellschaft und Wirtschaft gefährden sich selbst durch einen Sinnverlust (Kapitel 3).
  • Ein sinnvolles Wirtschaftssystem entsteht durch gesellschaftliche Selbststeuerung (Kapitel 4).
Ausgehend von der Frage, welche Rolle Nachhaltigkeitsratings im Wirtschaftssystem spielen, ergibt sich, aufbauend auf den systemtheoretischen Überlegungen, für den empirischen Teil der Untersuchung von Nachhaltigkeitsratings folgende These.
  • Nachhaltigkeitsratings ermöglichen eine Selbststeuerung der Wirtschaft durch eine begrenzte Reflexion in Unternehmen (Kapitel 5).
Zur gesellschaftlichen Einordnung der Nachhaltigkeitsratings werden abschließend die Erkenntnisse mit der folgenden These wieder auf eine abstrakte systemtheoretische Ebene gehoben.
  • Die Politik kann durch Kontextsteuerung der Selbststeuerung der Wirtschaft mit einer begrenzten Reflexion die Evolution zu einer sinnvollen Gesellschaft unterstützen (Kapitel 6).
Daraus ergibt sich die grundsätzliche These, die vorliegender Arbeit zugrunde liegt.
  • Nachhaltigkeitsratings tragen zu einer sinnvollen Gesellschaft bei, indem sie eine Selbststeuerung der Wirtschaft durch eine begrenzte Reflexion in Unternehmen ermöglichen.

1.5 Aufbau der Arbeit

Die Arbeit orientiert sich im Aufbau an den oben genannten Thesen.
In Kapitel 2 wird beschrieben, wie die Selbsterhaltung von Systemen durch neuen Sinn ermöglicht wird.
Dazu wird eine grundlegende Einführung in die Systemtheorie insbesondere in Bezug auf Luhmann (1984) gegeben. Anschließend werden die gesellschaftlichen Steuerungsformen Markt, Hierarchie und Netzwerke systemtheoretisch beschrieben und deren Interdependenzen verdeutlicht. Zur systemtheoretischen Beschreibung des Marktes wird neben den Ausführungen zum Wirtschaftssystem von Luhmann (1988) auch auf die systemtheoretischen Beschreibungen von Banken (Baecker 2008) und Unternehmen (Röpke 2002) zurückgegriffen, um den Zusammenhang zwischen Finanz- und Realwirtschaft systemtheoretisch beschreiben zu können. Die systemtheoretische Beschreibung der Hierarchie erfolgt im wesentlich auf Basis der Ausführungen zu Organisationen von Luhmann (2000). Für eine systemtheoretische Einordnung von Netzwerken werden insbesondere die systemtheoretischen Überlegungen zu Netzwerken von Bommes und Tacke (2011b) herangezogen.
In Kapitel 3 wird dargestellt, wie Gesellschaft und Wirtschaft sich durch einen Sinnverlust selbst gefährden.
Zuerst wird sehr grundsätzlich insbesondere mit Bezug auf Japp (1996) systemtheoretisch beschrieben, dass Rationalität nicht mehr ausreicht, um die Kontingenz der Gesellschaft zu verarbeiten.
Danach wird mit Luhmann (1986) dargestellt, wie die Orientierung des Wirtschaftssystems an einer wirtschaftlichen Rationalität zu einer Selbstgefährdung führt. Es wird sowohl systemtheoretisch als auch exemplarisch beschrieben, wie die Realwirtschaft und die Finanzwirtschaft ihre eigene Grundlage zerstören.
Zudem wird aufgezeigt, wie Kontingenz die Steuerungsfähigkeit der Politik begrenzt. Neben den Grenzen einer politischen Steuerung des Wirtschaftssystems werden die Steuerungsmöglichkeiten von sozialen Systemen mithilfe von Luhmann (1986), Willke (2005) und Wiesenthal (2006) erläutert. Abschließend wird beschrieben, wie das politische System durch Kontingenz in der sachlichen und zeitlichen, aber auch in der sozialen Sinndimension an seine Grenze stößt.
In Kapitel 4 wird beschrieben, wie ein sinnvolles Wirtschaftssystem durch eine gesellschaftliche Selbststeuerung entsteht.
Im ersten Schritt wird gezeigt, wie durch Reflexion die pathologische Selbstreferenz aufgelöst wird. Nach einer systemtheoretischen Beschreibung von Reflexion (Luhmann 1984; Willke 1987; Japp 1996) durch Netzwerke (Baecker 2003; Bommes und Tacke 2011b) folgt eine systemtheoretische Beschreibung der gesellschaftlichen Reflexion im Wirtschaftssystem. Danach wird dargestellt, wie in Organisationen der Realwirtschaft durch Corporate Social Responsibility (CSR) und in Organisationen der Finanzwirtschaft durch Social Responsible Investments (SRI) gesellschaftliche Reflexion erfolgt.
Im zweiten Schritt wird erläutert, wie durch eine Generalisierung auf Basis von Nachhaltigkeit eine neue Stabilität geschaffen wird. Nach einem systemtheoretischen Bezug zu Institutionen (Japp 1996; Willke 2007) und einer Beschreibung der gesellschaftlichen Funktion von Nachhaltigkeit (Melde 2012) wird die Bedeutung von Nachhaltigkeit für das Wirtschaftssystem systemtheoretisch dargestellt. Anschließend wird erläutert, wie sich Organisationen in der Realwirtschaft durch Nachhaltigkeitsmanagement und in der Finanzwirtschaft durch nachhaltige Investments an Nachhaltigkeit orientieren.
Im dritten Schritt wird erläutert, wie eine begrenzte Reflexion in wirtschaftlichen Entscheidungen eine Selbststeuerung des Wirtschaftssystems ermöglicht und wie diese durch Fremdbeschreibungen beeinflusst werden kann (Luhmann 2000). Es wird systemtheoretisch beschrieben, wie durch eine Verschleierung der Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft die Voraussetzung für eine begrenzte Reflexion in wirtschaftliche Entscheidungen geschaffen wird. Es wird erläutert, wie die Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft in der Finanzwirtschaft durch den Zusammenhang von der Corporate Social Performance und Corporate Financial Performance und in der Realwirtschaft durch den Business Case for Sustainability verschleiert wird. Es wird dann systemtheoretisch erläutert, wie die Selbststeuerung von Organisationen durch den Einfluss von Fremdbeschreibungen auf Selbstbeschreibungen beeinflusst werden kann. Es wird dargestellt, dass mit Nachhaltigkeitsratings eine Verschiebung der Fremdbeschreibung auf Basis von einer wirtschaftlichen Rationalität hin zu Nachhaltigkeit stattfindet.
In Kapitel 5 wird dargestellt, wie Nachhaltigkeitsratings mithilfe einer begrenzten Reflexion in Unternehmen die Selbststeuerung der Wirtschaft ermöglichen. Auf Basis eines mehrstufigen Experteninterviews in einem Unternehmen und mehreren Nachhaltigkeitsratingagenturen werden die systemtheoretischen Überlegungen anhand von Nachhaltigkeitsratings empirisch überprüft. In der Auswertung und Interpretation werden bereits existierende Studien um die Ergebnisse der Experteninterviews ergänzt. Zum Verständnis der Veränderungsmöglichkeiten von Unternehmen wird von Hasenmüller (2013) insbesondere auf die Untersuchung von Pfadabhängigkeiten im Nachhaltigkeitsmanagement zurückgegriffen. Es wird gezeigt wie Nachhaltigkeitsratings durch ihre Reflexionsfunktion einen bestehenden Evolutionspfad von Organisationen aufbrechen und durch ihre Generalisierungsfunktion stabilisieren, wodurch sie ein Reentry der Gesellschaft in unternehmerische Entscheidungen ermöglichen und einen Beitrag zur Selbststeuerung der Wirtschaft leisten. Dabei werden auch Grenzen dieser Steuerung ersichtlich, die eine Unterstützung der Politik notwendig machen.
In Kapitel 6 wird beschrieben, wie Politik durch die Kontextsteuerung der Selbststeuerung der Wirtschaft mit einer begrenzten Reflexion die Evolution zu einer sinnvollen Gesellschaft unterstützen kann.
Einerseits wird mit Beispielen aktueller Regulierungsvorhaben aufgezeigt, wie Politik die Entstehung einer Wirtschaft mit begrenzter Reflexion beschleunigen oder verstärken kann, indem sie indirekt die Reflexion der Gesellschaft und die Generalisierung durch Nachhaltigkeit unterstützt. Zudem wird deutlich gemacht, dass Politik besonders bei der Berücksichtigung von nichtwirtschaftlichen Gesellschaftsthemen in der Wirtschaft unterstützten muss, indem nichtwirtschaftliche Gesellschaftsthemen wirtschaftlich gemacht werden.
Andererseits wird abstrahierend beschrieben, dass die Verbindung der gesellschaftlichen Reflexion mithilfe von Netzwerken mit einer Generalisierung auf Basis von Nachhaltigkeit eine Kombination aus Einheit und Vielfalt erzeugt. Dadurch entsteht eine Emergenz, mit der die Gesellschaft ein neues Komplexitätsniveau erreicht, wodurch sie Kontingenz besser verarbeiten kann. Nachhaltigkeitsratings tragen zu einer Steigerung der Komplexitätsverarbeitungskapazität bei, indem sie, wie auch Politik, die Selbststeuerung der Wirtschaft unterstützen.
Jedes dieser Kapitel endet mit einem Zwischenfazit als eigenständigem Kapitel. Darüber hinaus befindet sich am Ende jedes Unterkapitels der zweiten Gliederungsebene eine Zusammenfassung, die mit „Zusammenfassend“ eingeleitet wird.
In Kapitel 7 folgt das Gesamtfazit mit einer Zusammenfassung und Darstellung des Mehrwertes der Arbeit und des weiteren Forschungsbedarfs.
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Fußnoten
1
Die Entstehung von SRI und deren Schnittmenge mit nachhaltigen Investments werden in Abschnitt 4.​1.​4 und Abschnitt 4.​2.​4 näher ausgeführt.
 
Metadaten
Titel
Einleitung
verfasst von
Christian Strangalies
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-44078-7_1