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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

3. Selbstgefährdung der Wirtschaft durch Sinnverlust

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Zusammenfassung

In diesem Kapitel wird beschrieben, woher die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft rührt. Es wird erläutert, wie in der Gesellschaft die Kontingenzauflösung durch Rationalität an ihre Grenzen stößt und die Orientierung des Wirtschaftssystems an wirtschaftlicher Rationalität zu einer Selbstgefährdung führt. Zudem wird aufgezeigt, wie Kontingenz die Steuerungsfähigkeit der Politik begrenzt.
In diesem Kapitel wird beschrieben, woher die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft rührt. Es wird erläutert, wie in der Gesellschaft die Kontingenzauflösung durch Rationalität an ihre Grenzen stößt und die Orientierung des Wirtschaftssystems an wirtschaftlicher Rationalität zu einer Selbstgefährdung führt. Zudem wird aufgezeigt, wie Kontingenz die Steuerungsfähigkeit der Politik begrenzt.

3.1 Grenzen der Kontingenzauflösung durch Rationalität

Kontingenz lässt sich, wie in Abschnitt 2.​1.​3 beschrieben, durch Erfahrungen, Zufälle oder abstrakte Vorgaben reduzieren. Üblicherweise wird heute Kontingenz durch Erfahrungen reduziert, indem versucht wird, möglichst rationale Entscheidungen zu treffen. Es wird daher die Auflösung von Kontingenz durch Rationalität und deren Grenzen im folgenden Abschnitt tiefergehend aus systemtheoretischer Sicht betrachtet.
Obwohl viele davon überzeugt sind oder fordern, rational zu handeln (Smith 1827; Kant 1877; Weber 1923; Simon 1959), gibt es aus systemtheoretischer Sicht keine absolute Rationalität.
Die Rationalisierung hat zwar dazu beigetragen, dass sich gesellschaftliche Funktionssysteme durch eine Spezialisierung ausdifferenzieren konnten. Mithilfe dieser Spezialsprache konnte die gesellschaftliche Kommunikation effizienter gestaltet werden (Willke 1996, S. 59).
Da die Umwelt immer komplexer ist als das System, ist es für Systeme unmöglich, die gesamte Realität zu erfassen und zu einer gesamtgesellschaftlichen Rationalität zu gelangen. Daher kann in jedem Funktionssystem nur eine Teilrationalität verarbeitet werden (Luhmann 1986, S. 251).
Wenn also alle Beteiligten der Gesellschaft rational handeln, heißt das nicht, dass dies auch einer gesamtgesellschaftlichen Rationalität entspricht. Beispielsweise kann individuell rationales Handeln zu systemischen Nebenfolgen führen, die erst auf der Organisationsebene und der gesellschaftlichen Ebene ersichtlich werden und zu einer Gefährdung des Systems führen (Willke 1996, S. 46).
Rationale Entscheidungen sind ein Mythos, der entstehen konnte, indem die Rahmenbedingungen nicht berücksichtigt wurden und den Entscheidungsmodellen vereinfachende Annahmen zugrunde gelegt wurden. Bei rationalen Entscheidungen wird die Realität ausgeschlossen, die nur insofern berücksichtigt werden kann, als die Entscheidung selbst beobachtet wird. Erst wenn Kritik zugelassen und ein Widerstand gegen sich selbst ermöglicht wird, kann das System an Realitätsnähe gewinnen (Luhmann 2000, S. 136 f.).
Die Evolution von Systemen entsteht nicht durch eine Anpassung an die ausgeschlossene Umwelt, sondern indem das System selbst Entscheidungen trifft. Eine Veränderung entsteht durch eine Abweichung vom Bestehenden. Kritik entsteht daher dadurch, dass etwas abgelehnt wird (Baecker 2003, S. 276 ff.).
Aus systemtheoretischer Sicht können keine rationalen Entscheidungen existieren, da nie die gesamte Komplexität der Umwelt berücksichtigt werden kann. Allerdings können Entscheidungen allmählich rationaler werden, indem das bisher Ausgeschlossene der Realität wieder berücksichtigt, das heißt, das Bestehende wird durch Negation kritisiert.
Die Systemtheorie hat ein anderes Verständnis von Rationalität, was am Beispiel von Risiken ersichtlich wird. Bei der Definition von Risiko unterscheidet die klassische Risikoforschung zwischen Risiko und Sicherheit (Japp 1996, S. 9). Der Rational-Choice-Ansatz geht beispielsweise von einem trivialen System aus, das berechenbar ist (Elster 1986).
Nach der klassischen Definition der Risikoforschung besteht ein Risiko aus der Eintrittswahrscheinlichkeit, multipliziert mit der Schadenshöhe. Im Gegensatz dazu geht die Systemtheorie von der Unterscheidung von Risiko und Gefahr aus, da eine absolute Sicherheit nicht möglich ist. Während das Risiko den Entscheidungen des Systems zugeordnet wird, liegt die Gefahr in der Umwelt, die auch nicht mit Wahrscheinlichkeiten berechnet werden kann (Japp 1996, S. 14 ff.). Zwar kann spezifisches Nichtwissen in Form von Risiken in den Entscheidungen berücksichtigt werden, aber unspezifisches Nichtwissen bleibt unbekannt und wird erst ersichtlich, wenn eine unerwartete Nebenwirkung eingetreten ist (Strulik 2000, S. 78 ff.).
Risikoentscheidungen mit der Paradoxie von Sicherheit durch Unsicherheit werden nur durch eine Invisibilisierung der Gefahr mittels der Erzeugung einer Scheinsicherheit möglich (Japp 1996, S. 78).
Für Entscheidungen ist von einer Differenz zwischen Risiko und Sicherheit auszugehen, da Entscheidungen nur unter der Annahme von Sicherheit getroffen werden. Für die Illusion einer Sicherheit müssen die Gefahren durch Latenz invisibilisiert werden (Japp 1996, S. 53), indem beispielsweise die Folgen der Risiken in die Zukunft verschoben oder externalisiert werden (Strulik 2000, S. 68). Die Risikoparadoxie beschreibt das Problem, dass bei jeder Entscheidung, die versucht, Risiken zu reduzieren, gleichzeitig neue Risiken erzeugt werden (Japp 1996, S. 64 f.). Durch jedes neue Wissen entsteht Nichtwissen und durch jede Risikoreduktion entsteht eine Risikoproduktion (Strulik 2000, S. 14 ff.). Chancen können daher nur ergriffen werden, weil sie die Risiken scheinbar überwiegen (Japp 1996, S. 45 ff.). Entscheidungen sind nur durch eine Invisibilisierung der Paradoxie der Unsicherheitsabsorption und durch Scheinsicherheit möglich.
Im Fall der Unsicherheitsabsorption wird in der Beobachtung erster Ordnung die Unsicherheit verschleiert, wodurch ein blinder Fleck entsteht, der nur durch Beobachtung zweiter Ordnung betrachtet werden kann. Dieser führt zwar dazu, dass überhaupt entschieden werden kann, aber er steigert damit gleichzeitig das Risiko für unerwartete Nebenfolgen, die auf das System zurückwirken können (Japp 1996, S. 90). Die Unsicherheitsabsorption ist nur mithilfe einer Konstruktion von Sicherheit möglich (Japp 1996, S. 162), denn im Grunde gibt es keine sicheren Entscheidungen (Japp 1996, S. 27). Die Paradoxie der Entscheidung, dass Zukunft ungewiss ist und eine Entscheidung eigentlich nicht getroffen werden kann, wird aufgelöst, indem Entscheidungen auf Entscheidungen verweisen (Japp 1996, S. 86). Eine Entscheidung kann auf eine bereits getroffene Entscheidung verweisen und so die Rationalität der Entscheidung begründen. Diese müsste sich dann auf eine weitere Entscheidung beziehen und diese auf eine weitere Entscheidung, damit die erstgenannte Entscheidung als tatsächlich rational gesehen werden kann. Damit eine pathologische Selbstreferenz verhindert wird, ist es jedoch notwendig, dass ein Entscheider als Letztbezug auf Interessen oder Probleme verweist, die allgemein akzeptiert werden (Luhmann 2000, S. 148 ff.). Blinde Flecken und mögliche Nebenwirkungen von Entscheidungen bleiben latent, wodurch Entscheidungen trotz Unsicherheit der Zukunft entscheidbar werden (Baecker 2003, S. 242 f.).
Durch Strukturen, Prozesse und Motive entstehen Festlegungen, die Entscheidungen trotz Unsicherheitsfolgen ermöglichen. Mit dieser Scheinsicherheit entstehen jedoch neue Risiken. Risiken können daher durch Unsicherheitsabsorption nicht reduziert, sondern nur transformiert werden (Japp 1996, S. 49).
Die Kontingenz der Funktionssysteme wird durch Entscheidungen und Unsicherheitsabsorption in Risiken transformiert. Risiko wird dadurch zu einer Art Metacode der Gesellschaft. Die Risiken in der Gesellschaft werden immer größer und die Kontingenz immer offensichtlicher (Japp 1996, S. 62 ff.).
Da Systeme die Gesellschaft immer nur aus ihrer Perspektive beobachten, können sie auch nie eine gesamtgesellschaftliche Rationalität erreichen, sondern unterliegen immer einer Systemrationalität, die die Umwelt nur durch ihren eigenen Code wahrnimmt. Aus systemtheoretischer Sicht existiert eine Rationalität im Sinne einer übergeordneten Vernunft nicht (Luhmann 1986, S. 252 ff.).
Für eine gesamtgesellschaftliche Rationalität müsste die Umwelt, also die Gesellschaft, in das System integriert werden. Da die Komplexität der Umwelt aber immer größer ist als das System, kann die Gesellschaft also nur durch einen Reentry der Einheit der Differenz zwischen System und Umwelt ein vereinfachtes Abbild der Umwelt im System integrieren. Da dieses Bild immer unvollständig ist, kann ein System auch nie eine gesamtgesellschaftliche Rationalität erreichen. Es kann sich jedoch dieser gesamtgesellschaftlichen Rationalität nähern, indem es die ausgeschlossenen blinden Flecken wieder einbezieht (Luhmann 1986, S. 256 ff.).
Durch eine höhere Resonanz der Systeme kann die Umwelt stärker wahrgenommen werden, weshalb die Perspektive stärker auf gesamtgesellschaftliche Rationalität ausgerichtet wird. Eine zu hohe Resonanz, also ein zu starker Fokus auf gesamtgesellschaftliche Rationalität, kann jedoch zu einer Überlastung des Systems führen (Luhmann 1986, S. 220). In diesem Fall versucht das System eine gesamtgesellschaftliche Rationalität einzunehmen, was zum Scheitern verurteilt wäre.
Gleichzeitig kann im System auch eine zu geringe Resonanz vorliegen, sodass Probleme in der Umwelt nicht wahrgenommen werden (Luhmann 1986, S. 220). Hierbei vernachlässigt das System eine gesamtgesellschaftliche Rationalität, weshalb sich das System gegebenenfalls nicht ausreichend der Umwelt anpasst.
Die Einschätzung der gesellschaftlichen Kontingenz beeinflusst, wie Systeme versuchen, eine gesamtgesellschaftliche Rationalität einzunehmen. Entweder wird Kontingenz überbewertet und es wird nichts für sicher gehalten, wodurch die Gesellschaft in einen anomischen Zustand fällt, oder Kontingenz wird unterschätzt, sodass die Rahmenbedingungen als gegeben angenommen werden, obwohl diese eigentlich veränderbar wären. Die moderne Gesellschaft befindet sich in einem eher anomischen Zustand, nicht nur, weil sich die alten Weltbilder aufgelöst haben, sondern auch, da sich die Kontingenz durch die Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Funktionssysteme und die aus der Unsicherheitsabsorption resultierende Zunahme der Unsicherheiten deutlich erhöht haben (Japp 1996, S. 23 ff.).
Wenn gesellschaftliche Funktionssysteme nur in einem sehr bestimmten Bereich eine hohe Resonanz haben und in einem anderen Bereich keine, sind sie nicht mehr in der Lage die zunehmende Kontingenz zu verarbeiten. Die ökologische Gefährdung der Gesellschaft deutet darauf hin, dass die Gesellschaft zu wenig Resonanz gegenüber der Umwelt erzeugt (Luhmann 1986, S. 220 ff.). Es muss daher eine gesellschaftliche Steuerung gefunden werden, welche die Resonanz für eine gesamtgesellschaftliche Rationalität erhöht, ohne dass eine Überlastung entsteht (Willke 1983, S. 50).
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass aus systemtheoretischer Sicht keine absolute Rationalität erreicht werden kann. Für Systeme ist es unmöglich, die Komplexität der gesamten Umwelt zu erfassen, weshalb eine gesamtgesellschaftliche Rationalität, unerreichbar ist. Systeme können daher nur eine Systemrationalität ausbilden. Rationale Entscheidungen sind nicht möglich, da das bedeuten würde, dass in einer Entscheidung alle Folgen und Nebenfolgen berücksichtigt werden, was aber aufgrund der Komplexität der Umwelt unmöglich ist. Es kann daher auch bei Risikoentscheidungen nicht zwischen Risiko und Sicherheit unterschieden werden, da eine absolute Sicherheit aufgrund der Komplexität nie gewährleistet werden kann. Für Entscheidungen muss aber eine Scheinsicherheit erzeugt werden, da sie sonst nicht entscheidbar sind. Dies erfolgt durch Latenz, die mögliche Gefahren invisibilisiert. Entscheidungen ermöglichen Unsicherheitsabsorption, indem sie sich auf bereits getroffene Entscheidungen beziehen, da die Komplexität dieser Entscheidung nicht mehr berücksichtigt werden muss. Entscheidungen, die auf bereits getroffenen Entscheidungen basieren, erscheinen rational, allerdings muss jede Entscheidungskette enden, deren Letztbezug nicht rational sein kann. Da in Entscheidungen nie alle Nebenwirkungen berücksichtigt werden können, wird nicht nur Unsicherheit reduziert, sondern es werden auch neue Risiken erzeugt. Systeme, die versuchen, eine Gesamtrationalität einzunehmen, müssen aufgrund der Komplexität der Gesellschaft genauso scheitern wie Systeme, die gar nicht versuchen, gesellschaftliche Folgen zu betrachten. Aufgrund der ökologischen Folgen ist davon auszugehen, dass die gesellschaftlichen Funktionssysteme heutzutage eine eher zu geringe Resonanz gegenüber der Gesellschaft aufweisen, weshalb besonders Steuerungsformen gefunden werden müssen, die die Resonanz ohne Überlastung erhöhen.

3.2 Pathologische Selbstreferenz des Wirtschaftssystems

In diesem Kapitel wird beschrieben, wie das Wirtschaftssystem mit wirtschaftlicher Rationalität und der Vernachlässigung von allem Nichtwirtschaftlichen seine Komplexität erreichen konnte, sich aber dadurch zugleich selbst gefährdet. Es wird gezeigt, wie die Realwirtschaft durch den Fokus auf den sich selbst steuernden Markt und auf Wachstum zu einer Zerstörung der ökologischen und gesellschaftlichen Umwelt führt und wie die Finanzwirtschaft durch Schuldenwachstum zu einer Gefahr für die realwirtschaftliche Umwelt wird.

3.2.1 Leistungsfähigkeit der modernen Wirtschaft durch Blindheit

Inwiefern gesellschaftliche Funktionssysteme in der Lage sind, eine Perspektive der gesellschaftlichen Gesamtrationalität einzunehmen, ist davon abhängig wie sie die Umwelt, also die Gesellschaft, im System berücksichtigen können. Es stellt sich also die Frage, wie die gesellschaftlichen Funktionssysteme Resonanz gegenüber der Gesellschaft erzeugen können.
Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft geht durch die Spezialisierung mit einem Redundanzverlust einher, der zu Sensibilität in einem sehr bestimmten Frequenzbereich führt (Luhmann 1986, S. 98). Mit den ausdifferenzierten Funktionssystemen und deren spezialisierten Kommunikationscodes wird eine Erhöhung der gesellschaftlichen Resonanz innerhalb dieser Frequenzbänder erzeugt (Luhmann 1986, S. 218). Je abstrakter der Code, desto komplexer die Programme und umso sensibler können die Sensoren externe Veränderungen wahrnehmen (Luhmann 1986, S. 83). Durch den Redundanzverlust und die Spezialisierung auf ganz bestimmte Funktionsbereiche entsteht jedoch auch ein höheres Risiko für Ausfälle (Luhmann 1986, S. 210).
Denn durch die Ausdifferenzierung und Spezialisierung der Funktionssysteme sind die Funktionssysteme auf die Funktion der anderen Systeme angewiesen. Das heißt, bei einem Ausfall können sie sich nicht wechselseitig ersetzen. Ein weiteres Problem in der Reduktion der Redundanz besteht darin, dass die Funktionssysteme bei funktionsübergreifenden Problemen nicht zusammenarbeiten können. Da die Funktionssysteme miteinander gekoppelt sind, kann es auch passieren, dass sich Störungen gegenseitig aufschaukeln (Luhmann 1986, S. 98 ff.).
Ein solches gegenseitiges Aufschaukeln von Störungen lässt sich dann aufgrund der unabhängig voneinander operierenden Systeme nicht mehr kontrollieren (Luhmann 1988, S. 224). Störungen in einem System können sich daher auf andere Systeme und die gesamte Gesellschaft übertragen. Die Ausdifferenzierung und der Redundanzverlust sind mit einem hohen Risiko verbunden. Zwar führt die Spezialisierung dazu, dass die Resonanz der Gesellschaft in bestimmten Bereichen erhöht wird. Allerdings besteht hierbei immer das Risiko einer Fehlspezialisierung, da das, was durch die Redundanzauflösung an Resonanz verloren gegangen ist, nicht ausreichend berücksichtigt wird.
Dies kann so weit führen, dass die Evolution, die darüber entschieden hat, welche Resonanz in welchen gesellschaftlichen Frequenzbereichen oder Kommunikationscodes der gesellschaftlichen Funktionsbereiche als relevant erachtet wird, korrigiert werden muss. Denn wenn gesellschaftliche Störungen nicht berücksichtigt werden, kann es passieren, dass die Umwelt so verändert wird, dass das System selbst gar nicht mehr in der Lage ist, in der Umwelt zu überleben. Die Frage der Überlebensfähigkeit von Systemen lässt sich daher nicht durch die Beschreibung von Kausalitäten erklären, sondern ist eine Frage der verwendeten Selektionskriterien (Luhmann 1986, S. 38 f.). Für eine Einschätzung der gesellschaftlichen Resonanzfähigkeit der Gesellschaft müssen daher die jeweiligen Codes und Programme der Funktionssysteme betrachtet werden (Luhmann 1986, S. 100 f.).
Die gesellschaftliche Resonanzfähigkeit des Wirtschaftssystems wird besonders an der Funktion von Geld ersichtlich. Aus systemtheoretischer Sicht besteht die wesentliche Funktion von Geld in einer symbolischen Generalisierung, indem Geld eine Abstraktion schafft, die zugleich Spezifität und Interpretationsspielraum zulässt. Mithilfe von Geld können Unterschiede des Verschiedenen überwunden werden, ohne dass der Unterschied ausgeschlossen wird.
Am Beispiel von Ego und Alter in einer Situation von doppelter Kontingenz beschreibt Luhmann (1988, S. 232 ff.), wie mit der symbolischen Generalisierung durch Geld Kontingenz reduziert werden kann. In einer Situation mit einer vollständig offenen Kontingenz ist es nicht möglich, den Anderen zu beobachten, da selbst beim Versuch nur eine Selbstbeobachtung stattfindet, da das, wie beobachtet wird, und damit auch das, was gesehen wird, selbst festgelegt werden. Generalisierung hilft, die Differenz zwischen Ego und Alter und die damit verbundene doppelte Kontingenz zu überwinden. Durch ein generalisiertes Kommunikationsmedium wird die Differenz der Beobachtung nicht mittels einer höheren Ordnung aufgehoben, sondern das generalisierte Kommunikationsmedium schafft eine Einschränkung des Möglichkeitsraums, wie beobachtet wird, wodurch die Komplexität verarbeitbar wird. Mit dem Kommunikationsmedium „Geld“ findet eine Selektion bestimmter Kriterien statt, unter denen beide Tauschpartner sich etwas vorstellen können. Nun ist nur noch das relevant, was eine wirtschaftliche Verwendung hat und in Geld ausgedrückt werden kann. Voraussetzung für eine Generalisierung ist also Redundanz, da Ego und Alter zur gleichen Zeit einen gemeinsamen Sinn erleben müssen, der dann unterschiedliche Anschlussmöglichkeiten bietet. Die Generalisierung schafft für Ego und Alter Einheit und Verschiedenheit zugleich. Im Falle von Geld wird eine Wertäquivalenz hergestellt und es werden verschiedene Tauschmöglichkeiten erzeugt. Geld schafft gleichzeitig Bestimmtheit und Unbestimmtheit, denn es wird ein konkreter Betrag bestimmt, der vielfältig verwendet werden kann. Mit dieser Einheit und Differenz erzeugt die Generalisierung auf Basis von Geld zugleich „Symbolik und Diabolik“ (Luhmann 1988, S. 259). Kontingenz wird reduziert, indem Komplexität durch Einschränkungen reduziert wird. Mithilfe der binären Codierung aus Zahlungen und Nichtzahlungen des Kommunikationsmediums „Geld“ wird die Komplexität so stark reduziert, dass, nur das, was wirtschaftlich ist, berücksichtigt wird. Das ausgeschlossene Dritte bleibt jedoch nicht ausgeschlossen, sondern wird auf der Ebene der Programme berücksichtigt. Die Wirtschaft orientiert sich über den Zahlungsvorgang an der Umwelt, und nur, was über den Zahlungsvorgang Eingang findet, kann in der Wirtschaft berücksichtigt werden, indem sie beobachtet, wie der Markt sich als interne Umwelt verhält (Luhmann 1988, S. 239 ff.).
Das Wirtschaftssystem ist durch eine Selbstregulierung in der Lage, Umweltthemen zu berücksichtigen, sofern sie in Preisen abbildbar sind und nach der systeminternen Logik verarbeitet werden können. So können beispielsweise ökologische Themen in der Wirtschaft berücksichtigt werden, wenn sie rentabel sind. Wenn also gesellschaftliche Themen so gestaltet werden, dass sie im Wirtschaftssystem aus wirtschaftlichen Gründen berücksichtigt werden können, entsteht Resonanz. Allerdings gehen daraus praktische Herausforderungen hervor, insofern nicht alles Gesellschaftliche messbar und zurechenbar ist. Das Wirtschaftssystem wird also nie im Sinne des Gesamtsystems entscheiden können. Es orientiert sich immer nur an der systeminternen Umwelt der Wirtschaft: dem Markt. Denn die Umwelt ist zu komplex, als dass das Wirtschaftssystem in der Lage wäre, eine Gesamtrationalität zu entwickeln. Vielmehr wird sie immer einer Systemrationalität unterliegen. Durch die Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems und der Selbstreferenz kann das System seine eigene Zeit entwickeln, wodurch es sich nicht mehr mit der Zeit der Umwelt synchronisieren muss. Indem das Wirtschaftssystem Resonanz nur auf wirtschaftlich relevante Umweltereignisse zeigt, kann es die Geschwindigkeit der Operationen deutlich erhöhen. Durch die Reduktion des Zeithorizonts wird somit auch die Komplexitätsverarbeitungskapazität des Wirtschaftssystems erhöht (Luhmann 1986, S. 108 ff.).
Durch die symbolische Generalisierung wird es möglich, Kontingenz zu reduzieren und Komplexität zu verarbeiten. Luhmann (1988, S. 260 ff.) beschreibt, wie daraus aber auch gleichzeitig die Diabolik des Geldes entsteht. Denn im Grunde ist die Wahl, was nicht berücksichtigt werden soll, selbst gewählt und somit auch das, was ignoriert wird. Die Grenzziehung ist somit eine Fiktion. Wie jede Entscheidung enthält auch die Entscheidung über die Beobachtung der Umwelt und dessen, was als Drittes ausgeschlossen wird, ein Risiko. Das Diabolische der Generalisierung von Geld besteht also darin, dass durch die Reduktion der Kontingenz, bestimmte Gefahren nicht beobachtet werden. Eine Ursache, dass dies nicht gesehen wird, besteht in der zeitlichen Diskrepanz zwischen Symbolik und Diabolik und in der Ungewissheit der Zukunft. Bisher hatte es den Anschein, dass das Risiko durch die Generalisierung kalkulierbar ist. Mit den zunehmenden Rückwirkungen der Umwelt auf das Wirtschaftssystem wird jedoch deutlich, dass eine Verarbeitung durch die Prinzipien des rationalen Handelns nicht mehr angemessen ist. Risiken werden durch Organisation verteilt und reduziert, wodurch diejenigen, die nicht an der Entscheidung beteiligt sind, die diabolische Seite des Geldes zu spüren bekommen. In Tauschtheorien wird das ausgeschlossene Dritte vernachlässigt, indem es externalisiert wird, sodass weder die symbolische noch die diabolische Funktion des Geldes sichtbar wird (Luhmann 1988, S. 260 ff.).
Die Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems ermöglicht durch die Spezialisierung auf wirtschaftliche Themen den Aufbau eines komplexen Systems. Durch die Symbolik von Geld wird die Resonanz für Wirtschaftliches erhöht, aber durch den Redundanzverlust entsteht zugleich eine Diabolik des Geldes, da alles andere ausgeschlossen wird und negative Auswirkungen und Rückwirkungen nicht beobachtet werden.

3.2.2 Selbstgefährdung der Realwirtschaft

Als ausdifferenziertes Gesellschaftssystem erfüllt das Wirtschaftssystem eine rein wirtschaftliche Funktion der Gesellschaft und hat daher seine Resonanz im Frequenzbereich des Wirtschaftlichen. Mit der Entstehung des selbstregulierenden Marktes konnte die symbolische Generalisierung des Geldes entstehen und sich durch Wirtschaftswachstum ausbreiten. Mit dem reinen Fokus auf das Wirtschaftliche und der Vernachlässigung anderer gesellschaftlicher Themen wurde Kontingenz reduziert. Gleichzeitig entstand durch die Vernachlässigung von anderen gesellschaftlichen Themen eine diabolische Generalisierung, die zu negativen Auswirkungen in den anderen gesellschaftlichen Bereichen führen, die zu einer Gefährdung der Gesellschaft und damit auch der Wirtschaft selbst werden können.
Mit der Entstehung des selbstregulierenden Marktes konnte der Grundstein für die symbolische Generalisierung durch Geld erzeugt werden.
Ein selbstregulierender Markt ist dadurch gekennzeichnet, dass alle Waren verkauft und mit dem aus dem Erlös erzielten Einkommen wiederum gekauft werden können. Arbeit schafft Einkommen, Boden eine Rente und Geld Zins. Alle Einkommen können dafür verwendet werden, Waren zu kaufen. Unternehmer erzielen einen Profit aus der Differenz zwischen den eingekauften und produzierten Warenpreisen (Polanyi 1978, S. 103).
Eine Voraussetzung für die Entstehung eines selbstregulierenden Marktes ist die Gewinnorientierung. Die theoretischen Überlegungen hierzu haben ihren Ursprung bereits in der antiken Philosophie. Das Streben nach Gewinn konnte sich durch religiöse Vorstellungen verbreiten und später durch Nationalökonomen in einen zusammenhängenden wirtschaftstheoretischen Kontext gestellt werden. Durch die Unterscheidung von Haushalt und Gelderwerb machte Aristoteles bereits in der Antike deutlich, dass die Versorgung eines Haushalts begrenzt ist, aber das Gewinnstreben keine natürlichen Grenzen hat (Polanyi 1978, S. 85 f.). Nach Weber (2009) hat Religion einen hohen Anteil an der Entstehung des wirtschaftlichen Fokus der Gesellschaft, da die protestantische Ethik den Geist des Kapitalismus nach Gewinnstreben hervorbrachte. Smith (1827) entwickelte die Idee eines gewinnmaximierenden Homo oeconomicus. Sie entstand auf Basis der Beobachtung einer Wirtschaft, die auf Tausch und Tauschhandel basiert. Mit der These, dass ein Handeln nach eigenen Interessen auch der Allgemeinheit dient, wurde ein starkes Argument erzeugt, sich auf eine rein wirtschaftliche Perspektive zu beschränken.
In der Praxis waren Märkte früher nur ein Teil der Wirtschaft, und das Wirtschaftssystem war ein Teil der Gesellschaft, indem die Märkte sich an Verhaltensnormen anpassten. Die Wirtschaft und deren Steuerung entwickelten sich gleichermaßen (Polanyi 1978, S. 102).
Ein selbstregulierender Markt konnte erst in der Industrialisierung durch den Einsatz von Maschinen entstehen, da durch den Einsatz von Produktionsfaktoren und den Verkauf der Produkte ein Gewinn erzeugt werden konnte (Polanyi 1978, S. 54 ff.).
Mit der Einführung von Maschinen verschob sich die Wirtschaft vom Handel zum Gewerbe. Damit war die Industrie nicht mehr nur Teil des Handels. Zum Erhalt von Produktionsfaktoren wurden Menschen als Arbeit und Natur als Boden rein wirtschaftlich betrachtet. Mit dieser Warenfiktion wurde verschleiert, dass Arbeit einer menschlichen Tätigkeit entspricht, die noch viele andere Facetten beinhaltet, und Boden Natur darstellt, die nicht vom Menschen hergestellt wird, und Geld Kaufkraft entspricht, die über das Finanzsystem entsteht und nicht produziert wird (Polanyi 1978, S. 108 ff.).
Im Marktsystem wurden Menschen und Natur in Form von Arbeit und Boden zu Waren, die auf einem Markt gehandelt werden konnten. Erst mit dieser Fiktion war es dem Marktsystem zu arbeiten möglich (Polanyi 1978, S. 183).
Mit dieser Ausdifferenzierung der Gesellschaft und der Reduktion der Gesellschaft auf das rein Wirtschaftliche konnte eine symbolische Generalisierung erzeugt werden, die einen reinen wirtschaftlichen Fokus auf das Marktliche ermöglichte. Mithilfe der Warenfiktion wurde die Paradoxie der Gesellschaft in der Wirtschaft aufgelöst. Es entstand strukturelle Latenz, die die Paradoxie der Gesellschaft in der Wirtschaft invisibilisierte. Der Markt konnte erst funktionieren, als Gesellschaftliches in der Wirtschaft berücksichtigt wurde, ohne dass es bewusst war, dass es gesellschaftlich war.
Die Warenfiktion konnte sich besonders durchsetzen, da eher die symbolische als die diabolische Seite des selbststeuernden Marktes betont wurde.
Mögliche negative Auswirkungen dieser einseitigen Perspektive auf das Wirtschaftliche wurden durch die Zeichnung eines sehr positiven Bildes des Fortschritts verschleiert. Die positive Entwicklung schien mögliches Leid zu rechtfertigen (Polanyi 1978, S. 122). Insbesondere der Wirtschaftsliberalismus, der sich in den 1830er Jahren nach der vollständigen Ausbildung der Marktwirtschaft entwickelte, erzeugte einen starken Glauben an den Fortschritt und stellte die positiven Seiten der Veränderungen in den Vordergrund (Polanyi 1978, S. 187 ff.).
Während in Stammesgesellschaften und im Merkantilismus die Wirtschaft noch in die Gesellschaft eingebettet war und kein separates System darstellte, führte der selbstregulierende Markt zu einer Trennung von Gesellschaft und Wirtschaft. Der selbstregulierende Markt konnte nur entstehen, indem sich die Gesellschaft den wirtschaftlichen Anforderungen unterordnete. Eine Markwirtschaft ist nur in einer Marktgesellschaft möglich. Wenn Menschen als Arbeitskräfte und die natürliche Umwelt als Boden in den Marktmechanismus einbezogen werden, wird die gesellschaftliche Substanz den Marktgesetzen unterstellt. Die Gesellschaft wurde dadurch dem Wirtschaftssystem untergeordnet (Polanyi 1978, S. 106 ff.).
Die Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems konnte durch eine Verschleierung der Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft entstehen. Der selbstregulierende Markt entstand aus einer Gewinnorientierung und einer Warenfiktion, die Gesellschaftliches rein wirtschaftlich betrachtet.
Während die Gewinnorientierung und der selbstregulierende Markt die Entstehung einer symbolischen Generalisierung im Wirtschaftssystem ermöglichten, sorgte ab dem Zweiten Weltkrieg bis heute das Wachstumsparadigma für deren Verbreitung. Auch hier gilt der Glaube, dass durch die Reduktion auf rein wirtschaftliche Aspekte eine gesellschaftliche Entwicklung erzeugt werden kann.
Der Begriff „Wachstumsparadigma“ wurde erstmals vom ökologischen Ökonomen Herman Daly (1972) im Jahr 1972 eingeführt, um eine Abgrenzung gegenüber dem Mainstream-Ökonomen vorzunehmen, die von einem unbegrenzten Wachstum ausgingen. In Anlehnung an den Paradigmenbegriff von Thomas Kuhn (2014) bezeichnet Schmelzer (2016, 12 f.) das Wachstumsparadigma als eine bestimmte Ansammlung von gesellschaftlichen, politischen und akademischen Diskursen, Theorien und statistischen Standards, die gemeinsam die Sicht durchzusetzen und zu rechtfertigen versuchen, dass Wirtschaftswachstum wünschenswert, zwingend erforderlich und unbegrenzt sei. Es gilt die Annahme, dass das Wirtschaftswachstum mit all seinen Verkürzungen, Annahmen und Ausschlüssen geeignet ist, wirtschaftliche Aktivitäten zu messen.
Ähnlich der Gewinnorientierung, die die Grundlage für den selbstregulierenden Markt bildete, erzeugte das Bruttonationalprodukt bzw. das Bruttoinlandsprodukt die Basis für die Entstehung des Wachstumsparadigmas. Mit der Definition des Bruttonationalprodukts wurde die Beobachtung des Wirtschaftssystems klar gegenüber der Umwelt abgegrenzt, dies ermöglichte ein einheitliches Verständnis darüber, was eigentlich wachsen soll.
Das Wirtschaftswachstum ist eine Konstruktion der Wirklichkeit, die auf Basis der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung eine gemeinsame Sprache erzeugte, mit der ein einheitliches Verständnis des Wirtschaftssystems generiert werden sollte. Durch die internationale Einigung auf einen vergleichbaren Maßstab zur Messung des quantitativen Wachstums einer Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Grundlage für ein Wachstumsparadigma geschaffen (Schmelzer 2016, S. 83 ff.).
Ein entscheidender Vorteil des Wirtschaftswachstums aus politischer Sicht lag besonders darin, dass diese Zielsetzung scheinbar undogmatisch war, da mit der Versprechung eines unendlichen Wachstums soziale Konflikte vermieden werden und die Frage der Verteilung und Ungleichheit eher in den Hintergrund gerückt werden konnten (Schmelzer 2016, S. 13).
Mit dem Fokus auf Wachstum wurde es möglich, das Knappheitsparadox der Wirtschaft, wonach ein Mehr nur durch ein zeitgleiches Weniger erzielt werden kann, aufzulösen. Mit dem Fokus auf das rein Wirtschaftliche konnte ein Weniger in anderen gesellschaftlichen Bereichen vernachlässigt werden. Durch den Fokus auf Wachstum wurde das Knappheitsparadox invisibilisiert, indem eine Illusion eines unendlichen Mehr ohne Weniger erzeugt wurde.
Das politische System wurde in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem wesentlichen Treiber in der Verbreitung des Wachstumsparadigmas. Unabhängig von der politischen Ausrichtung wurde Wirtschaftswachstum als politisches Ziel definiert. Nachdem die Wachstumsraten in den 1970er Jahren nicht erreicht werden konnten, wurde als Ziel nicht ein anderes Wachstum, sondern mehr Wachstum als Lösung der wirtschaftlichen Probleme gesehen (Schmelzer 2016, S. 263 ff.). Auch die Herausforderungen, die der Club of Rome (1972) durch die Grenzen des Wachstums darstellte, sollten mit der Maximierung des Wirtschaftswachstums gelöst werden, da dadurch Ressourcen herausgelöst würden, die ermöglichten, die ökologischen und sozialen Knappheiten zu überwinden. Der wirtschaftliche Neoliberalismus forderte, den Markt von einer politischen und gesellschaftlichen Steuerung zu befreien (McCracken 1977). Der Wohlfahrtsstaat, der nach Polanyi zum Schutz von Arbeit, Boden und Geld im 19. Jahrhundert aufgebaut wurde, sollte geschwächt werden, um die Märkte zu entfesseln (Willke 2007, S. 72).
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges wurde deutlich, dass Liberalisierung und freie Marktwirtschaft sich durchsetzen konnten. Das Wachstumsparadigma und die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung wurden von allen ehemaligen Sowjetstaaten in den 1990er Jahren übernommen. Das Bruttonationalprodukt wurde zu einem allgemeinen Standard in der gesamten Welt (Schmelzer 2016, S. 329).
Mit der Etablierung des Wirtschaftswachstums und der Illusion der Überwindung des Knappheitsparadoxes konnte sich die symbolische Generalisierung der Wirtschaft ausbreiten und sorgte dafür, dass im Wirtschaftssystem die rein wirtschaftliche Ausrichtung verstärkt wurde.
Wirtschaftswachstum entwickelte sich zu einem Synonym des gesellschaftlichen Fortschrittes (Beck 2016, S. 326).
Vor dem Hintergrund der Wachstumsraten des Bruttonationalproduktes wurden wirtschaftliche Ziele mit den grundlegendsten Zielen der Gesellschaft verschmolzen. Das Niveau des Bruttonationalproduktes und die Wachstumsrate entwickelten sich zu einem Maßstab und Symbol sehr verschiedener Ziele, beispielsweise von sozialem Wohlstand, Wohlbefinden und Lebensstandard, Fortschritt, Modernität und Entwicklung, nationaler Macht, Ansehen, sozialer Dynamik, Lebenskraft und Gesundheit (Schmelzer 2016, S. 167). Mit dem Wirtschaftswachstum wurde die Differenz zwischen Wirtschaft und Gesellschaft verschleiert, was die wirtschaftliche Betrachtung des Gesellschaftlichen verstärkte.
Aus systemtheoretischer Sicht weisen soziale Systeme nur eine beschränkte Resonanzfähigkeit gegenüber der Umwelt auf, die die Systeme nur irritieren kann. Die Umwelt ist viel zu komplex, als dass sie vollständig im System berücksichtigt werden könnte. Zur Einbeziehung der gesellschaftlichen Umwelt findet in der Gesellschaft eine doppelte Selektion statt.
Eine erste Selektion findet im psychischen System statt, das zur Umwelt gehört. Das Bewusstsein, das sich durch Gedanken reproduziert, muss die Wahrnehmungen in der Umwelt erst in eine gesellschaftlich relevante Kommunikation transferieren. Entweder löst die Irritation der Bewusstseinssysteme eine Veränderung in der Kommunikation aus oder es entsteht nur ein Rauschen, das ignoriert wird (Luhmann 1986, S. 64 f.). Eine zweite Selektion erfolgt durch die Kommunikation, da so kommuniziert werden muss, dass eine Resonanz ausgelöst wird. Die Selbstgefährdung der Gesellschaft entsteht also nicht nur durch die realen Auswirkungen auf die Umwelt, die die Reproduktion der Menschheit gefährdet, sondern durch Kommunikation, die die gesellschaftliche Kommunikation gefährdet. Die Gesellschaft muss daher erst in der Lage dazu sein, diese Gefährdung zu artikulieren (Luhmann 1986, S. 68). Nach Luhmann ist auch die Resonanzfähigkeit der Wirtschaft hinsichtlich der Berücksichtigung von gesellschaftlichen Themen begrenzt, da sie nur die wirtschaftsbezogenen Irritationen der Gesellschaft wahrnehmen kann.
Wie in Abschnitt 3.2.1 beschrieben, erzeugt Geld nicht nur eine symbolische, sondern auch eine diabolische Generalisierung, die auch in der Realwirtschaft existiert.
Zwar führt die Reduktion auf die Güterproduktion zu einem sehr hohen materiellen Wohlstand. Das heißt, die gewählte Form das Knappheitsparadoxes zu verdecken, indem einfach jeder mehr bekommt, stellte eine enorme Leistungsfähigkeit dar (Luhmann 1988, S. 101).
Allerdings werden Knappheiten, die dadurch in anderen Bereich entstehen, nicht berücksichtigt. Die Selbstreferenz des Wirtschaftssystems und der reine Fokus auf Geld führen zu einer Veränderung von Motiven, einem enormen Ressourcenverbrauch und stören das ökologische Gleichgewicht (Luhmann 1988, S. 16).
Luhmann kritisiert die Wirtschaftswissenschaften, die die begrenzte Verfügbarkeit von Ressourcen auf dem Planeten ignorieren und von einer Substitution von Produktionsfaktoren ausgehen (Luhmann 1988, S. 38). Eine rein ökonomische Perspektive aus der einseitigen Betrachtung des Fortschrittsglaubens führt zwangsläufig dazu, dass das Wirtschaftssystem negative Auswirkungen in der Gesellschaft und der Umwelt hat, die durch die diabolische Generalisierung erst invisibilisiert, aber mit der Zeit immer offensichtlicher werden und zu einer Katastrophe führen können.
Negative gesellschaftliche Folgen sind sowohl durch Vermarktung von Boden mittels Einfriedung entstanden als auch durch das Aufkommen eines freien Arbeitsmarktes im Rahmen der Industrialisierung. Während es in Westeuropa lange Zeit keinen industriellen Fortschritt gab, da die Landwirtschaft unverändert betrieben wurde, legte in England die Wollindustrie den Grundstein für die Baumwollindustrie. Mit der Einfriedung haben Großgrundbesitzer Ackerflächen in Weideland verwandelt, um Wolle zu produzieren. Dazu wurden Bauern aus ihren Häusern vertrieben. Ob die Enteignung der Bauern zu etwas Positivem oder zu einer Krise führte, war davon abhängig, ob die Menschen genug wirtschaftliche und psychische Ressourcen hatten, um eine neue Beschäftigung zu finden. Abhängig von der Veränderungsgeschwindigkeit konnte also etwas Negatives entstehen, das die positiven Seiten des Wandels kompensierte (Polanyi 1978, S. 60 ff.). Negative Auswirkungen entstehen besonders dann, wenn der Wandel sich zu schnell vollzieht und das Gemeinwesen zerstört wird (Polanyi 1978, S. 112).
Eine ähnliche Entwicklung fand im Rahmen der industriellen Revolution statt, die dramatische Auswirkungen auf die Lebensumstände hatte, da die Arbeiter in den Städten unter sehr widrigen Umständen leben mussten. Ähnlich der Einfriedung führte die industrielle Revolution zu einer Katastrophe, die nie wirklich überwunden werden konnte. Es gab viele Versuche, die negativen Auswirkungen zu reduzieren. Aber der seit der industriellen Revolution verbreitete Glaube, dass alle Probleme materiell gelöst werden können, war deutlich stärker (Polanyi 1978, S. 67).
Die Entstehung eines freien Arbeitsmarktes durch die Reduzierung der Arbeiter auf den rein wirtschaftlichen Produktionsfaktor „Arbeit“ verursachte soziales Elend. Nach Owen (1817) sind die Lebensbedingungen der Arbeiter durch ein kulturelles Vakuum entstanden, da handwerkliches Geschick nicht mehr benötigt wurde und politische und gesellschaftliche Existenzbedingungen zerstört wurden.
Im Liberalismus wurde wirtschaftlicher Fortschritt ohne Rücksicht auf soziale Folgen akzeptiert. Mit dem Utilitarismus lag die Perspektive auf den Vorteilen des Wachstums, und die negativen Auswirkungen des schnellen Wandels wurden ignoriert (Polanyi 1978, S. 59).
Der Wirtschaftsliberalismus führte zu einer Gefährdung der sozialen Sicherheit und belastete so die Institutionen. Mit dem Klassenkonflikt, der aus dem Wirtschaftsliberalismus entstanden ist, wurde die Krise zu einer Katastrophe (Polanyi 1978, S. 187).
Durch den Fokus auf die symbolische Seite des Wirtschaftssystems und die Vernachlässigung der diabolischen Seite entstanden negative Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt. Durch den sich selbst steuernden Markt während der Industrialisierung wurden Menschen und Umwelt zu Produktionsfaktoren reduziert, was zu katastrophalen Sozialzuständen führte.
In ähnlicher Weise führte auch das Wachstumsparadigma nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem Fortschrittsglauben und der einseitigen Perspektive auf rein Wirtschaftliches sowie dem vollständigen Ausschluss der Gesellschaft in eine Krise, die allerdings eher ökologischer Natur war. Durch diese wurde die diabolische Seite der Generalisierung auf Basis von Geld ersichtlich.
Die Standardisierung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und das Bruttonationalprodukt bzw. das Bruttoinlandsprodukt waren wesentliche Voraussetzungen der wirtschaftlichen Fokussierung auf Wachstum. Allerdings wurde bei den Diskussionen um die Ausgestaltung des Instruments von Anfang an gewarnt, dass diese Messung sehr einseitig ist und viele Dinge vernachlässigt werden und daher nicht geeignet sind, eine gesellschaftliche Entwicklung zu bewerten. Es gab zwei Denkschulen, die unterschiedlicher Auffassung hinsichtlich der Verwendung des Nationaleinkommens waren. Es gab Vertreter, die die Praktikabilität und Nützlichkeit des Bruttonationaleinkommens zur Analyse der Funktion der Wirtschaft und zur Beratung der Wirtschaftspolitik in den Vordergrund stellten (Gilbert 1945). Demgegenüber gab es Vertreter, die die Schwierigkeiten und Mängel für die Analyse und den Vergleich von Reichtum über Raum und Zeit betonten (Kuznets 1934). Im Jahr 1940 kritisierte bereits Clark (1940), dass das Nationaleinkommen nur einen Teil der wirtschaftlichen Wohlfahrt, die selbst nur einen Teil des Wohlstandes im Ganzen darstellt, abbildet. Dies liegt besonders daran, dass die Wirtschaftswissenschaften sich ausschließlich mit Dingen beschäftigen, die durch Zahlungen mit Geld realisiert werden, wodurch die wichtigsten Aspekte des menschlichen Lebens vernachlässigt werden.
Bei der Standardisierung des Bruttonationalproduktes in den späten 1940er Jahren haben die Protagonisten selber darauf hingewiesen, dass die Messgröße nicht dafür gedacht ist, Wohlfahrt zu messen, sondern nur dafür, den Wert der Produktion aus einer wirtschaftlichen Perspektive darzustellen (Gilbert et al. 1949).
Ab Mitte der 1950er Jahre stellte sich nicht mehr die Frage, ob das Bruttonationalprodukt die Wohlfahrt eines Landes misst, dies galt als selbstverständlich. Ab den 1960er Jahren wurde das Bruttonationalprodukt von der ökologischen Bewegung kritisiert, da mit der Konzentration auf das Bruttonationalprodukt der Fokus von ökonomischen Variablen auf Flüsse anstatt auf Bestände gelegt und somit die natürliche Einbettung der Wirtschaft vernachlässigt wurde. Es wurde kritisiert, dass in den Statistiken zum Bruttonationalprodukt die Leistungen der Ökosysteme wie natürliche Ressourcen und Senken vernachlässigt worden seien und ökologische Leistungen nur berücksichtigt werden könnten, wenn sie bepreist würden. Der Fokus auf Flüsse statt auf Bestände führte zu der allgemeinen Kritik, dass nicht berücksichtigt werde, wie sich wirtschaftliche Aktivitäten auf die sozialen und ökologischen Grundlagen der Gesellschaft und Wirtschaft auswirkten (Schmelzer 2016, S. 97 ff.).
Das quantitative Wachstumsparadigma wurde ab den 1960er Jahren stark hinterfragt, da angezweifelt wurde, dass das Wachstum des Bruttonationalproduktes Umweltauswirkungen ausreichend berücksichtigt und in der Lage ist, zum menschlichen Wohlergehen beizutragen und soziale Probleme wie Ungleichheit zu lösen. Mit der Protestbewegung von 1968 wurde die Kritik lauter, dass durch das kapitalistische Wachstum und den Materialismus Ungerechtigkeit und Ausgrenzung erzeugt würden und der verwundbare Planet durch eine unkontrollierte technologische und wirtschaftliche Entwicklung weiter Schaden nehmen könnte (Schmelzer 2016, S. 238 ff.).
Wesentliche Einflüsse hatten die Arbeiten von Galbraith (1958), Mishan und Mishan (1967), Club of Rome (1972) und Toffler (1970). Auch Soziologen und Ökologen wurden zunehmend kritischer gegenüber dem technokratischen Glauben an die positiven Effekte des quantitativen Wachstums. In den 1970er Jahren wurden mit Begriffen wie „Postmaterialismus“ (Inglehart 1977) und Werten wie „Small is beautiful“ (Schumacher 1973) Alternativen zur materiellen Wachstumslogik entwickelt. Diese Öffnung der Latenz offenbarte die diabolische Seite der Generalisierung durch Geld und führte das Wachstumsparadigma in eine Krise (Schmelzer 2016, S. 241 f.).
Ähnlich der Durchsetzung des Fortschrittsglaubens in der Industrialisierung, der durch das Gewinnstreben und den sich selbst steuernden Markt eine soziale Katastrophe auslöste, setze sich auch der Glaube an den Fortschritt und des Wirtschaftswachstums gegenüber dem Glauben an die negativen Auswirkungen des Fortschritts durch.
Wie oben beschrieben, wurde mit der Ausbreitung des Neoliberalismus ein Fokus auf die rein wirtschaftlichen Aspekte gelenkt, wodurch die symbolische Seite der Generalisierung des Geldes in den Vordergrund gestellt wurde.
Durch den reinen Fokus auf das Wirtschaftliche sind jedoch zunehmend negative ökologische Auswirkungen entstanden, die bis heute nicht ausreichend berücksichtigt werden.
Dazu gehören beispielsweise die Gefahren des Klimawandels. Mit der Klimarahmenkonvention (Vereinte Nationen 1992), dem Koyoto-Protokoll (Vereinte Nationen 1997) und dem Pariser Klimaabkommen (Vereinte Nationen 2015) gab es immer wieder Versuche, die Risiken des Klimawandels transparent zu machen und vor den diabolischen Folgen der Generalisierung der Wirtschaft zu warnen.
Die jährlich stattfindende Klimakonferenz seit der ersten Konferenz im Jahr 1995 in Berlin konnte sich jedoch bisher nicht gegen das Wachstumsparadigma und den Fortschrittsglauben durchsetzen. Die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre nimmt seit ungefähr 1750 aufgrund der Wirtschaftsaktivitäten des Menschen immer mehr zu. Auch zwischen 2011 und 2019 ist die CO2-Konzentration in der Atmosphäre weiterhin kontinuierlich auf inzwischen 410 ppm gestiegen. Die globale Oberflächentemperatur auf der Erde hat sich dadurch bereits um ungefähr ein Grad im Durchschnitt erhöht (Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 2021, 4 f.).
Mit der Zunahme von Hitzewellen, Starkniederschlägen, Dürren und tropischen Wirbelstürmen sind die Folgen des menschengemachten Klimawandels bereits heute in jeder Region der Welt spürbar (Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 2021, S. 8).
Auf der UN-Klimakonferenz 2015 in Paris verständigten sich die 195 Staaten der Vereinten Nationen eigentlich darauf, dass der globale Anstieg der Temperatur auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden soll (United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) Secretariat 2016, S. 2), da bei jedem weiteren Anstieg der Temperatur die Häufigkeit und Intensität von Hitzeextremen, marinen Hitzewellen und Starkniederschlägen zunimmt. Außerdem entsteht in einigen Regionen eine stärkere Zunahme von landwirtschaftlichen und ökologischen Dürren, und tropischen Wirbelstürmen sowie stärkere Rückgänge des arktischen Meereises, von Schneebedeckung und Permafrost (Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 2021, S. 15).
Bei einer stärkeren Erwärmung als 1,5 Grad Celsius werden hohe Risiken in einigen Regionen und sensiblen Ökosystemen gesehen (United Nations Framework Convention on Climate Change (UNFCCC) Secretariat 2015, S. 33 f.).
Neben den ökologischen Folgen treten auch Kettenreaktionen auf, wodurch Armut verstärkt wird, indem Arme noch ärmer werden und die Anzahl der Armen zunimmt (Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 2018b, S. 178).
Nach allen berechneten Szenarien wird jedoch davon ausgegangen, dass die weltweite Oberflächentemperatur im Durchschnitt bereits Anfang der 2030er Jahre um 1,5 Grad Celsius wahrscheinlich überschritten sein wird (Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 2021, S. 14).
„Climate change represents an urgent and potentially irreversible threat to human societies and the planet“ (Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) 2018a, S. 5).
Die Folgen des Klimawandels sind also bereits heute kaum aufzuhalten, weshalb es kaum noch eine Frage ist, ob die Menschheit durch Fortschrittsglauben und Ignoranz der diabolischen Seite Wirtschaft sowie durch den reinen Fokus auf das Wirtschaftswachstum auf eine Krise zusteuern wird oder nicht. Vielmehr ist es eher die Frage, wie schwerwiegend die Krise sein und ob die Menschheit in der Lage sein wird, diese Krise zu überleben.
Die diabolische Seite des Wirtschaftssystems wurde nach der Industrialisierung durch die Auswirkungen des sich selbst steuernden Marktes auf die Arbeiter und während der Nachkriegszeit durch die ökologischen Folgen des Wirtschaftswachstums sichtbar. Aufgrund des Glaubens, durch Wachstum Wachstumsprobleme beheben zu können, kumulierten die Risiken zu einer ökologischen Krise, die zu einer Gefahr der Menschheit geworden ist.
Die Resonanzfähigkeit von Systemen ist begrenzt, da die Umwelt aufgrund ihrer Komplexität nicht vollständig im System abgebildet werden kann. Daher können auch nicht alle Auswirkungen des Systems auf die Gesellschaft beobachtet werden. Durch einen falschen Fokus kann es passieren, dass wesentliche Auswirkungen nicht wahrgenommen werden, weshalb die Evolution der Systeme in eine falsche Richtung steuern kann und das System selbst zu einer Gefahr wird. Die Biologie bietet dazu ein anschauliches Beispiel. Der biologische Prozess der Karzigonese beschreibt die Entstehung und den Verlauf von Krebsgeschwüren. Wenn bei einer Mutation einer Zelle kein natürlicher Zelltod durch einen Suppressor eingeleitet wird, kann es passieren, dass die Zellen unkontrolliert wachsen und sich in angrenzende Bereiche ausbreiten, wodurch gesundes Gewebe bis hin zu Metastasierung verdrängt wird, wobei der Tumor in andere Körperregionen eindringt und der gesamte Organismus gefährdet wird (Hanahan und Weinberg 2000).
Auch wenn es sich hierbei um einen biologischen Prozess handelt, der physikalischen Gesetzmäßigkeiten folgt und nicht durch Kommunikation gesteuert wird, werden in Analogie dazu in dieser Arbeit soziale Systeme als pathologische Systeme bezeichnet, die durch eine zu geringe Resonanz pathologisch werden und sich durch die Verselbstständigung selbst gefährden.
Mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft und dem damit einhergehenden Strukturaufbau nimmt die Umwelt einen immer geringeren Stellenwert ein, weil immer mehr Möglichkeiten ausgeschlossen werden. Da die Art der internen Differenzierung zur Beobachtung der Umwelt vom System eigenständig gewählt wird, kann die Differenzierung des Systems so weit gehen, dass sie unabhängig vom eigentlichen Zustand der Umwelt operiert. Damit orientiert sich beispielsweise ein funktional ausdifferenziertes Gesellschaftssystem nur noch an seiner binärer Codierung und dem jeweiligen Funktionsproblem, ohne dass es etwas Entsprechendes in der Umwelt gibt (Luhmann 1984, S. 264 f.).
Wenn die Komplexität durch die Ausdifferenzierung insgesamt immer weiter steigt, wird auch die Unsicherheit stetig größer, dass durch die gewählte Beobachtungsform etwas Wesentliches übersehen wird. Diese Unsicherheit kann reduziert werden, indem Systeme schneller arbeiten und schneller auf Irritationen reagieren (Luhmann 1984, S. 422).
Wegen der turbulenten und sich ständig ändernden Umwelt ist es notwendig, dass sich das System der Umwelt anpasst, indem es eine höhere strukturelle Flexibilität aufweist. Wenn die Turbulenzen aber von den Systemen selbst erzeugt werden und sie sich dann durch Veränderung wieder anzupassen versuchen, entsteht eine Turbulenz-Flexibilitätsspirale, die in einer Katastrophe, in Form einer schnelleren Entropie, enden muss. Durch die selbst erzeugten Umweltänderungen erzeugt das System selbst einen Zwang, auf Probleme zu reagieren, die es selbst erschaffen hat, ohne dass eine Verbesserung der Verhältnisse des Systems oder in Bezug auf die Umwelt erzeugt wird (Luhmann 1984, S. 476 ff.). Der Wandel einer Gesellschaft, die plötzlich leidet, obwohl es ihr zuvor gut ging, muss als pathologisch angesehen werden (Polanyi 1978, S. 218). Das liegt vor allem am Wirtschaftssystem, das sich zu einem pathologischen Gesellschaftssystem entwickelt hat.
Wegen der Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems nimmt das System nur die Aspekte wahr, die für den wirtschaftlichen Code aus Zahlungen und Nichtzahlungen relevant sind. Durch fehlende Selbstbegrenzungen konnten das Wirtschaftssystem und dessen Logik so wachsen, dass das Wirtschaftssystem sowohl seine Umwelt als auch sich selbst gefährdet. Die Gefahr bezieht sich sowohl auf die Funktion des Wirtschaftssystems als auch auf die Gesamtgesellschaft, die auf diese Funktion angewiesen ist (Melde 2012, S. 58).
Die Auswirkungen der Wirtschaft auf die gesellschaftliche Umwelt, die psychische Umwelt und die ökologische Umwelt strahlen auf die Wirtschaft zurück (Luhmann 1988, S. 169). Da es im Wirtschaftssystem beispielsweise keine Selbstbegrenzung gibt, gefährdet das Wirtschaftssystem durch seine Komplexität die Umwelt und damit zugleich auch sich selbst (Melde 2012, S. 58). Die Wirtschaft ist zu einem hyperkomplexen System geworden, dessen eigene Komplexität zur Gefahr wird (Luhmann 1988, S. 126). Wegen der reinen Beobachtung des Wirtschaftlichen hat das Wirtschaftssystem negative Auswirkungen auf die Umwelt, die zu einer Gefahr der Gesellschaft und der Wirtschaft selbst werden. Ersichtlich wird das auch an dem sich selbst steuernden Markt und dem Wirtschaftswachstum.
Durch den sich selbst steuernden Markt unterwarfen sich andere Gesellschaftsbereiche dem Marktmechanismus. Die schöpferische Gestaltung und damit Entwicklung in anderen Gesellschaftsbereichen wurde dadurch behindert (Polanyi 1978, S. 169).
Mit der Institutionalisierung des Marktes separierte sich das Wirtschaftssystem von der Gesellschaft, sodass es nicht mehr in die Gesellschaft eingebettet war. Die Gesellschaft war nun vom Markt abhängig und passte sich den Anforderungen des Marktes an (Polanyi 1978, S. 88). Das unkontrollierte Marktsystem breitete sich auch in andere gesellschaftliche Bereiche aus (Polanyi 1978, S. 334). Der Übergang von geregelten zu selbstregulierenden Märkten erzeugte eine radikale gesellschaftliche Transformation (Polanyi 1978, S. 105). Im Rahmen der maschinellen Produktion einer kommerziellen Gesellschaft wurden natürliche und menschliche Substanzen in Waren transformiert, wodurch menschliche Beziehungen und natürlicher Raum, die die Grundlage des selbstregulierenden Marktes darstellen, zerstört wurden (Polanyi 1978, S. 70).
Ähnlich der Verelendung der Industrialisierung führt auch die Risikogesellschaft in einen Notstand. Im Gegensatz zur sozialen Verelendung der Arbeiter in der Frühindustrialisierung führen die wirtschaftliche Produktivitätssteigerung und der Glaube an den Fortschritt, zu einer ökologischen Verelendung. Sowohl im Glauben an den Fortschritt als auch an das Wirtschaftswachstum werden latente Risiken erst später durch Kritik sichtbar gemacht (Beck 2016, S. 67). Durch die Ausdifferenzierung und Spezialisierung entstehen unkalkulierbare Risiken und unerwartete Nebenfolgen, die die positiven Wirkungen konterkarieren (Beck 2016, S. 284 ff.). Dies führt zu einem Bumerangeffekt, durch den die Risiken, die das System selbst erzeugt hat, wirtschaftlich relevant werden und somit auf das Wirtschaftssystem zurückwirken (Beck 2016, S. 30).
Jedes Risiko, das Leben bedroht, gefährdet damit zugleich die Wirtschaft. Das Gewinnstreben bringt sich durch die ökologischen Schäden also selbst in Gefahr. Beim Bumerangeffekt kommt es nicht zu einer direkten Bedrohung des Lebens, sondern durch die Zerstörung von der ökologischen Umwelt werden auch ökonomische Schäden verursacht.
Diese ökologische Enteignung führt zu einem sozialen und ökonomischen Wertverlust, bei dem der Besitz entwertet und das Eigentum nutzlos wird (Beck 2016, S. 51). Unternehmen, die Wohlstand und Arbeitsplätze geschaffen haben, werden plötzlich aufgrund von Umweltverstößen verklagt. Da Umweltauswirkungen zugleich soziale und ökonomische Auswirkungen haben, ist die Naturzerstörung gleichzusetzen mit einer Zerstörung der Gesellschaft (Beck 2016, S. 102 ff.). Durch die Reaktion auf die eigenen Risiken wird das Wirtschaftssystem von sich selbst abhängig (Beck 2016, S. 30).
Mit Risiken wird die Wirtschaft pathologisch, da sie nur noch auf die eigenen Auswirkungen statt auf menschliche Bedürfnisse reagiert. Durch das fortschreitende Wirtschaftswachstum akkumulieren sich die Risiken, wodurch die Fallhöhe, das Risiko und die Schäden für Wirtschaft und Gesellschaft immer höher werden (Beck 2016, S. 74 ff.).
Die Auswirkungen des Wirtschaftssystems auf die ökologische Umwelt sind so groß geworden, dass die Phase ab der Industrialisierung mit dem Begriff „Anthropozän“ (Crutzen und Stoermer 2000) eine eigene Bezeichnung einer geochronologischen Epoche erhalten hat. Dabei gilt der Mensch mittlerweile als der wichtigste Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse der Erde. Steffen et al. (2007) haben dies als Geologie des Menschen bezeichnet.
Seit Millionen Jahren gab es keine solchen ökologischen Veränderungen, wie sie durch den Menschen bewirkt wurden. Dazu zählen die Treibhausgasemissionen, landschaftliche Veränderungen, Übersäuerung der Meere und die Zerstörung von Flora und Fauna (Zalasiewicz et al. 2008). In das Anthropozän fällt das sechste große Massensterben der Erdgeschichte, insofern in den letzten 40 Jahren die Hälfte der Tierwelt durch den Menschen ausgerottet wurde (Ceballos et al. 2017) und die Aussterberate bis zu 1000-mal so hoch liegt wie die normale Hintergrundaussterberate (Vos et al. 2015). Durch die ökologische Zerstörung sind in den Bereichen Luftverschmutzung, Stresswasser und Biodiversitätsverlust bereits kritische Kipppunkte erreicht, die die Ökosysteme so beeinträchtigen, dass das Überleben der menschlichen Zivilisation bereits bedroht ist (Rockström et al. 2009; Steffen et al. 2015).
Neben den gesellschaftlichen Folgen der wirtschaftlichen Aktivitäten zerstört die Wirtschaft durch die Umweltauswirkungen auch ihre eigene Grundlage. Deutlich wird das besonders anhand der industrialisierten kohlenstoffbasierten Wirtschaft und der Folgen des Klimawandels.
Im Jahr 2021 entstanden durch Extremwettersituationen bereits Schäden über 100 Milliarden US-Dollar. Dies bezieht sich nur auf versicherte Verluste, weshalb die tatsächlichen finanziellen Schäden sehr wahrscheinlich deutlich höher liegen (Kramer und Ware 2021, S. 4).
Der Bericht von Stern (2007) geht davon aus, dass ohne weitere Maßnahmen aufgrund des Klimawandels jährliche Kosten entstehen, die das weltweite Bruttoinlandsprodukt um 5 % bis 20 % reduzieren.
Nach Analysen von Swiss Re Institute (2021, S. 11) würde ohne Gegenmaßnahmen durch den Anstieg der durchschnittlichen Temperatur um 3,2 Grad Celsius das weltweite Bruttoinlandsprodukt 2050 um 18 % niedriger ausfallen als ohne Klimawandel. Bei dem bestehenden Trajektionspfad mit einer Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 2,0–2,6 Grad Celsius fällt das Bruttoinlandsprodukt durch die Schäden um 11–14 % niedriger aus.
Hinzu kommt, dass ein Großteil der bekannten fossilen Reserven nicht genutzt werden darf, wenn die globale Erwärmung auf 2 Grad Celsius beschränkt werden soll. Der Wert dieser Reserven wird auf 27 Billionen US-Dollar geschätzt (Jakob und Hilaire 2015).
Da diese Reserven dann wertlos wären, wird auch von einer Kohlenstoffblase gesprochen (Leaton et al. 2013). Citi (2015) schätzt, dass zur Erreichung des Klimaabkommens gestrandete Vermögen in Höhe von 100 Billionen entstehen, die durch Abschreibungen dann wertlos werden. Auch der Gouverneur Carney (2015) der englischen Zentralbank warnte vor gestrandeten Vermögen, die große Auswirkungen für Investoren haben und die Resilienz des Finanzsystems gefährden könnten. Auch das Weltwirtschaftsforum schätzte in seinem globalen Risikobericht, dass Umwelt- und Klimarisiken die größte globale Bedrohung darstellen (World Economic Forum 2020). Zur Erreichung des Zwei-Grad-Ziels des Pariser Klimaabkommen schätzt die OECD (2017), dass weltweit jährliche Investitionen in Höhe 6,35 Billionen Euro notwendig wären.
Die Förderung des sich selbst steuernden Marktes und des Wirtschaftswachstums bedingt eine wirtschaftliche Rationalität, mit der sich die Realwirtschaft unkontrolliert entwickelt und negative Auswirkungen auf die gesellschaftliche Umwelt ausübt, deren Rückwirkungen das Wirtschaftssystem gefährden.

3.2.3 Selbstgefährdung der Finanzwirtschaft

Wie bereits in Abschnitt 2.​2.​2 beschrieben, operiert die Realwirtschaft nicht unabhängig von der Finanzwirtschaft. Ziel dieses Kapitels ist es, zu beschreiben, wie die Finanzwirtschaft als Teilsystem der Wirtschaft durch zunehmende Komplexität zu einer Gefährdung ihrer Umwelt, also der Realwirtschaft, geworden ist, sodass sie auch die Fortsetzung der wirtschaftlichen Autopoiesis bedroht.
Systemtheoretisch ist eine Beobachtung nur durch eine Differenz möglich, die auf einer Paradoxie basiert, da die Beobachtung des Systems nur durch eine Differenz zwischen System und Umwelt möglich ist. Das System kann also nur durch die Umwelt bestimmt werden, die gleichzeitig ausgeschlossen werden muss. Damit eine Beobachtung möglich ist, muss diese Paradoxie verschleiert werden (Krause 2005, S. 204 f.). Wegen der Entstehung der Finanzwirtschaft wird die Paradoxie der Knappheit durch eine Unterscheidung von Zahlungsfähigkeit und Zahlungsunfähigkeit ersetzt (Luhmann 1988, S. 198 ff.).
Wie bereits in Abschnitt 2.​2.​2 ausgeführt, sorgt die Entstehung eines Kredits auf der einen Seite für Guthaben auf der anderen Seite. Aus einer saldenmechanischen Perspektive auf die Gesamtwirtschaft heben sich Ausgaben und Einnahmen sowie Schulden und Vermögen gegenseitig auf (Stützel 2011, 214 ff.).
Durch die Differenz von Zahlungsfähigkeit und Zahlungsunfähigkeit können sie getrennt voneinander verarbeitet werden, sodass die Paradoxie des Geldes verschleiert wird. Mit der Setzung einer Differenz wird der tautologische Zirkel der Paradoxie scheinbar verhindert. Da aber die Differenz immer auch kontingent ist, können die Differenzen so, aber auch ganz anders gesetzt werden. Eine prinzipielle Änderbarkeit ist aber eine Voraussetzung dafür, dass sie gesetzt werden kann. Durch eine scheinbar stabile Differenz wird es für die Beteiligten möglich, Operationen durchzuführen. Bei einer Beobachtung von außen werden tautologische Selbstbezüge immer wieder sichtbar und die Paradoxie wird erkennbar. Durch zirkuläre Rückwirkungen sind die Unterscheidungen immer kurz davor, zu kollabieren. Das System findet aber immer wieder neue Wege und entwickelt Fiktionen, die diese Rückwirkungen verschleiern, wodurch das System scheinbar funktioniert.
Entscheidend ist, dass mögliche tautologische Zirkel begrenzt werden. Die Differenzen schaffen diese Stabilität. Selbst wenn negative Rückkopplungen bekannt sind, besteht die Alternative nur in einer anderen Differenz, bei der sich die gleichen Herausforderungen ergeben. Ohne Differenz und Begrenzung der Selbstreferenz kann das System keine Operationen mehr durchführen und die Autopoiesis kann nicht mehr fortgesetzt werden (Luhmann 2000, S. 202 ff.).
Vor der Ausdifferenzierung der Gesellschaft konnte das Knappheitsparadox durch den Bezug auf einen gerechten Preis, der extern festgelegt wurde, aufgelöst werden. Mit der Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems und der Operationsweise mit Rentabilitäten wurde der Zugriff auf Knappheiten durch das Wirtschaftssystem selbst beschränkt. Die Preise wurden nicht mehr durch eine externe Regulation, sondern mittels einer Selbstregulation mithilfe des Marktes festgelegt. Der Zugriff auf Knappheiten wurde durch die Voraussetzung der Erzielung eines Gewinns beschränkt. Zwar kann die Umwelt auch über Preise berücksichtigt werden, aber im Prinzip findet eine Beschränkung nun ausschließlich innerhalb des Systems statt (Luhmann 2000, S. 105 f.).
Bei der Festlegung des Preises durch das Wirtschaftssystem selbst findet allmählich eine Entkopplung von der Gesellschaft statt. Operationen werden mehr und mehr mit dem Medium „Geld“ durchgeführt, weshalb der Tausch nicht mehr durch das Eigentum kontrolliert wird, sondern Tauschvorgänge bzw. Zahlungen kontrollieren das Eigentum (Luhmann 2000, S. 197). Die finale Ausdifferenzierung der Wirtschaft ist durch die Entstehung des Finanzsystems erfolgt (Luhmann 2000, S. 144).
Mit der Entwicklung der Finanzwirtschaft wird verschleiert, dass die Verteilung der Güter einen Einfluss auf die Gütermenge hat. Entscheidend war hier die Einführung von Kapital oder Geld. Wegen der Finanzwirtschaft wurde die bisherige Verteilung der Güter nach moralischen Kriterien von einem Verteilungsprogramm abgelöst, das sich an der Gewinnmaximierung orientierte und nach Rentabilitätsgesichtspunkten die Güter verteilte (siehe auch Abschnitt 2.​2.​2). Die Differenz wurde also angepasst. Aber grundsätzlich bleibt eine Differenz erhalten, die aufgrund der klaren Vorgaben zur Verteilung Operationen ermöglicht, obwohl die Differenz auch ganz anders sein könnte (Luhmann 2000, S. 208).
Banken können durch die Kreditvergabe neues Geld erzeugen. Denn das Bankensystem insgesamt kann gleichzeitig Zahlungsfähigkeit und Zahlungsunfähigkeit herstellen. Da Zahlungsfähigkeit und Zahlungsunfähigkeit operativ getrennt wird, wird die Differenz zwischen Überfluss und Knappheit auf eine neue Differenz übertragen, wodurch die Paradoxie verschleiert wird (Luhmann 1988, S. 145).
Banken erzeugen zusätzliche Zahlungsfähigkeit, da ihre Kreditvergabe über ihre Einlagen hinausgeht. Durch neue Sicherheiten der Gläubiger sind die Banken in der Lage, einen neuen Kredit bei der Zentralbank aufzunehmen. Da die Zinszahlungen der Gläubiger der Bank höher sind als die Zinsen, die die Bank durch den Zentralbankkredit erhält, ist die Bank in der Lage, ihre Schulden mit Gewinn zu verkaufen, weshalb Luhmann sie auch als parasitär bezeichnet. Sie sind in der Lage, Zahlungsunfähigkeit in Zahlungsfähigkeit zu wandeln. Ohne eine Begrenzung würden die Banken unendlich Schulden produzieren. Die Zentralbanken sind daher dafür verantwortlich, dass die Schulden nicht so groß werden, dass das Bankensystem nicht mehr funktioniert. Da die Zentralbanken nicht zahlungsunfähig werden können, bestehen bei ihnen auch keine Renditeanforderungen. Sie können daher nur die Abwertung der durch sie kontrollierten Währung gegenüber anderen Währungen riskieren (Luhmann 1988, S. 145 f.).
Die Voraussetzung zur Sicherstellung der Knappheit in der Wirtschaft besteht in der Aufrechterhaltung der Knappheit des Geldes. Denn nur durch eine Begrenzung kann die Paradoxie der Knappheit bzw. die Paradoxie der gleichzeitigen Zahlungsfähigkeit und Zahlungsunfähigkeit verschleiert werden und damit erhalten bleiben.
Damit die Illusion der Paradoxie der Knappheit in dieser Form der Differenz aufrechterhalten bleiben kann, muss das Finanzsystem die Knappheit des Geldes sicherstellen.
Denn die gesellschaftliche Funktion der Wirtschaft besteht ja, wie bereits in Abschnitt 2.​2.​2 dargestellt, in einer stabilen Vorsorge, die mit der heutigen Verteilung verknüpft ist. Das Finanzsystem kann diese Zukunftssicherheit nur sicherstellen, indem es die Knappheit des Geldes aufrechterhält (Luhmann 1988, S. 64 ff.).
Die Unterscheidung von Realwirtschaft und Finanzwirtschaft entspricht systemtheoretisch der Unterscheidung von Knappheit und Überfluss. Die Realwirtschaft hält Güter knapp, und die Finanzwirtschaft macht einen unendlichen Überfluss möglich. Damit es nicht zu einem unendlichen Wachstum der Finanzwirtschaft kommt, sind künstliche Knappheiten notwendig (Willke 2007, S. 142).
Ohne Beschränkung entsteht eine pathologische Selbstreferenz, die durch das unkontrollierte Wachstum seine eigene Grundlage zerstört. Bei einem unkontrollierten Wachstum wird die Paradoxie sichtbar, dass durch mehr Schulden/Vermögen mehr Schulden/Vermögen erzeugt werden.
Mit der Einführung von prinzipiell unbegrenztem Papiergeld entstanden auch die ersten Spekulationsblasen, beispielsweise das Tulpenfieber 1637. Durch die Einführung des Goldstandards wurde versucht, das Geldwachstum zu beschränken (Graeber und Schäfer 2014, S. 429 ff.). Der Goldstandard wurde 1844 in den Vereinigten Staaten gesetzlich verabschiedet (Poovey 2008, S. 49) und setzte sich 1870 in den damaligen Industriestaaten international durch (Conze et al. 2004, S. 139 ff.). Die Weltwirtschaftskrise durch das Platzen einer Spekulationsblase 1929 (Friedman und Schwartz 1971) und die drauffolgende Deflationsspirale (Fisher 1933) durch niedrigere Gesamtausgaben (Keynes 2002) konnten erst mit der Aufhebung des Goldstandards und höheren Staatsausgaben im Rahmen des New Deal im Jahr 1933 wieder stabilisiert werden (Eggertsson 2008). Durch die Finanzierung des Zweiten Weltkrieges entstanden neue Rekordverschuldungen. Die Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt erreichte in den USA eine Höhe von 112 % (Congressional Budget Office 2015, S. 71) und in Deutschland 670 % (Kuttner 2013, S. 95). Zur Wiederherstellung von geordneten Verhältnissen wurde im Jahr 1945 das Bretton-Wood-System eingeführt. Teilnehmende Währungen mussten in Gold oder in Währungen, die in Gold konvertiert werden können, festgelegt werden (Bordo und Eichengreen 2007, S. 49). Das Bretton-Wood-System sorgte für eine Begrenzung der Geldschöpfung und es entstand eine der stabilsten Phasen in der Wirtschaftsgeschichte, in der kaum systemische Bankenkrisen auftraten (Reinhart und Rogoff 2009, S. 252). Im Jahr 1971 lösten die Vereinigten Staaten von Amerika die Bindung des US-Dollars an Gold, wodurch der US-Dollar zu einer Fiat-Währung ohne inneren Wert wurde (Bordo und Eichengreen 2007, S. 80). Nach den Theorien der neoliberalen Wirtschaftswissenschaften der Chicagoer Schule, die besonders durch die Ideen von Friedman (1962) einer möglichst selbststeuernden Wirtschaft ohne staatliche Eingriffe geprägt war, wurde der US-amerikanischen Finanzsektor dereguliert. Durch die Deregulierung auf Grund des Neoliberalismus, die maßgeblich durch die Wirtschaftspolitik des Thatcherismus (Giddens 1999, S. 18) aus Großbritannien und der Reaganomics (Niskanen 1988) der Vereinigten Staaten vorangetrieben wurde, konnte die Finanzwirtschaft in wenigen Jahrzehnten erheblich wachsen. Nach der Dotcom-Blase und dem Terroranschlag vom 11. September 2001 wurde durch eine Reduzierung des Leitzinses die Ausbreitung der Geldmenge gefördert (Board of Governors of the Federal Reserve System (US) 2020).
Zur Stimulation der Wirtschaft wurden die Zinsen weiter gesenkt. Die weltweite Flucht aus den Aktienmärkten in Kombination mit neuen Finanzprodukten sorgte für zunehmende Spekulation am Immobilienmarkt (Zeise 2009, S. 8). Nachdem der Leitzins von 1 % auf 5,25 % von der US-Notenbank angehoben wurde (Board of Governors of the Federal Reserve System (US) 2020), platze die Immobilienblase, da die Nachfrage nach Häusern zurückging und Schuldner zunehmend nicht mehr in der Lage waren, die höheren Zinssätze zu zahlen (Sowell 2009, S. 57 f.). Die Zahlungsunfähigkeit von Lehman Brothers im September 2008 führte zu einem Verlust des Vertrauens in die Finanzinstitutionen und zu einem Bankenrun, der durch Zahlungsunfähigkeiten zu einer Reihe von Konkursen führte (The Financial Crisis Inquiry Commission 2011, S. 368). Mit der Finanzkrise wurden innerhalb von 21 Monaten 17 Billionen Dollar an Vermögen der Haushalte zerstört (The Financial Crisis Inquiry Commission 2011, S. 389), was deutlich höher war als der Wertverlust der Dotcom-Blase in Höhe von 6,5 Billionen US-Dollar (The Financial Crisis Inquiry Commission 2011, S. 392). In Form einer zurückhaltenden Kreditvergabe wirkte sich die Krise auf die Realwirtschaft aus, da somit Investitionen ausblieben und die Arbeitslosigkeit anstieg. In den USA stieg die Arbeitslosigkeit von 8,8 % im Dezember 2007 auf 17,4 % im Oktober 2009 und das Bruttoinlandsprodukt sank 2008 um 2,6 % (The Financial Crisis Inquiry Commission 2011, S. 390). Die Finanzkrise 2008 zeigt, dass die Finanzwirtschaft und die Realwirtschaft nicht unabhängig voneinander funktionieren können. Ein unbegrenztes Wachstum der Finanzwirtschaft kann zu dramatischen Konsequenzen in der Realwirtschaft führen. Nach einer unkontrollierten Schöpfung von Geld und dem damit verbundenen Anstieg von Schulden kam es schließlich zum Platzen einer Spekulationsblase, was realwirtschaftliche Auswirkungen hatte.
Aus der Perspektive der evolutorischen Ökonomik ist in einer dynamischen Wirtschaft die Gesamtmenge an Schulden immer größer als die Summe der Güter (Schumpeter 2006, S. 206).
Nach dem Konzept der Wachstumsspirale wird die Kaufkraft der Geldschöpfung für die Neukombination von Produktionsfaktoren in Löhne und Renten investiert, wodurch ein Einkommen erzeugt wird, mit dem neue Produkte und Dienstleistungen gekauft werden können. Der Mehrwert, mit denen das Unternehmersystem die Zinsen des Kredits bezahlen muss, und die Rendite, die es für das Eigenkapital erwirtschaften muss, entstehen aus dem zusätzlichen Geld, das aus den Neukombinationen geschöpft wird, und mit dem Einkommen aus den Löhnen und Renten, die in der Vorperiode für die Herstellung von Produkten und Dienstleistungen gezahlt wurden. Durch diese Wachstumsspirale entsteht ein Zwang, die Geldmenge kontinuierlich zu erhöhen. Denn damit ein Mehrwert mithilfe der gestern hergestellten Produkte erzielt werden kann, muss heute eine höhere Geldmenge investiert werden. Dadurch entsteht zeitgleich ein höheres Einkommen, mit dem bereits heute ein Mehrwert für die Produkte, die gestern hergestellt wurden, bezahlt werden kann. Damit für die Produkte, die durch die heutigen Investitionen entstehen, morgen ein Mehrwert bezahlt werden kann, muss morgen eine höhere Menge an Investitionen getätigt werden, damit zeitgleich ein höheres Einkommen zur Verfügung steht, mit dem der Mehrwert in Zukunft erzeugt wird. Sowohl die Geldmenge als auch die Investitionen müssen somit immer weiter erhöht werden, da sonst kein Gewinn mit den Investitionen von gestern erzielt werden kann. Wenn die Gewinne ausbleiben, sinkt der Erwartungswert für zukünftige Gewinne, weshalb weniger investiert wird, und damit noch weniger Geld geschöpft wird, mit dem Gewinne hätten bezahlt werden können. Die Folge ist, dass Zinsen nicht mehr bedient und die Erwartungen der Aktionäre zur Rendite und dem Risiko nicht mehr erfüllt werden können. Die finanziellen Unternehmersysteme entziehen das Kapital oder kündigen ihre Kredite. Die Folge ist eine Schrumpfungsspirale, bei der die Wirtschaft in eine Depression fällt. Für eine nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft ist es daher notwendig, dass das Geldwachstum den erwarteten Gewinnen entspricht. Zwar kann ein geringeres Wachstum in bestimmten Ländern durch stärkere Wachstumsraten in anderen Ländern ausgeglichen werden, aber das globale Wirtschaftswachstum sollte nicht unter 1,8 % fallen, da sonst die Zinsen und Renditeerwartungen nicht mehr bedient werden können (Binswanger 2013, S. 364 ff.).
Binswanger (2009, S. 11 ff.) beschreibt die Wachstumsspirale selbst als ein Schneeballsystem, da Schulden und deren Zinsen, mit denen die Neukombinationen finanziert werden, nur durch höhere Schulden bezahlt werden können. Der Vorteil des Wirtschaftssystems gegenüber einfachen Kettenbriefen besteht jedoch darin, dass dabei reale Einkommen und Mehrwerte erzeugt werden. Neben dem Wachstumszwang besteht in der Wirtschaft auch ein Wachstumsdrang, insofern finanzielle Unternehmersysteme eine Rendite für die Zurverfügungstellung von Eigenkapital erwarten. Da die Gewinnerwartung sich an vergangenen Gewinnen orientiert, steigen mit den zunehmenden Gewinnen auch die Erwartungen für künftige Gewinne. Unternehmersysteme müssen also noch mehr investieren, um den Erwartungen gerecht zu werden und um höhere Renditen in der kommenden Periode zu ermöglichen. Dadurch steigen die Erwartungen der finanziellen Unternehmersysteme immer weiter an, bis die Mehrwerte nicht mehr von den Unternehmersystemen realisiert werden können. Mit den bisherigen Erfahrungen einer Steigerung des Unternehmenswertes, gemessen an den zukünftig zu erwarteten Gewinnen, geht das finanzielle Unternehmersystem von weiteren Steigerungen des Unternehmenswertes aus. Unabhängig von den tatsächlich erzielten und zukünftigen Unternehmergewinnen steigt der Unternehmenswert, weil auch andere finanzielle Unternehmer auf Basis der bisherigen Erfahrung der Wertsteigerung in das Unternehmersystem investieren. Dadurch wird das Unternehmersystem zu einem Spekulationsobjekt. Bei geringen Zinsen können die Finanzunternehmer einen Kredit aufnehmen und in das Unternehmen investieren. Durch ihre Anlage tragen sie selbst zur Steigerung des Unternehmenswertes bei, wodurch ihre Rendite höher ist als die Zinsen, für die sie einen Kredit aufgenommen haben. Damit lohnt es sich, noch weitere Kredite aufzunehmen und in diesem Unternehmen anzulegen. Es entsteht eine Spekulationsspirale, die nicht mehr an reale Werte geknüpft ist. Die Wertsteigerung entspricht nicht mehr dem realen Mehrwert, der erschaffen wird. Mit Spekulationen löst sich die Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft ab. Schulden werden nur noch gemacht, um eine Preissteigerung zu erzeugen, die durch weitere Schulden ermöglicht wird. Es entsteht ein Schneeballsystem, bei dem die Zinsen der Schulden mit weiteren Schulden bedient werden – diesmal ohne die Entstehung eines Mehrwertes. Wenn die Zinsen steigen oder eine geringere Preissteigerung erwartet wird, kann es sein, dass Erträge der Preissteigerung geringer sind als der Aufwand für die Schulden, weshalb es sich nicht mehr lohnt, mit neuen Schulden bestehende Schulden zu bedienen. Dadurch platzt die Spekulationsblase. Das Schneeballsystem der Spekulationsblase löst eine Kettenreaktion aus, sodass die Kredite nicht mehr bedient werden können und das Unternehmersystem schlagartig an Wert verliert. Diese Kettenreaktion kann sich auf das Schneeballsystem der Wirtschaft, in dem reale Werte erzeugt werden, übertragen. Es werden keine neuen Schulden mehr aufgenommen, die für neue Investitionen und höhere Einkommen notwendig wären. Dadurch werden weniger Konsumausgaben für die Produkte und Dienstleistungen aus der Vorperiode getätigt, wodurch kein Mehrwert mehr für das Unternehmersystem entsteht. Da also die erwarteten Gewinne ausbleiben, wird weniger investiert und es werden noch weniger Schulden aufgenommen, wodurch die Realwirtschaft in eine Rezession fällt.
Insofern ein neuer Kredit nicht für den Konsum verwendet wird, entsteht durch die Kreditvergabe ein Vertrauensvorschuss in zukünftig noch zu produzierende Güter (Schumpeter 2006, S. 207).
Für die Entstehung von Wachstum müssen in einer Wirtschaft die Schulden immer größer sein, da davon zukünftige Gewinne bezahlt werden. Wenn also Gewinne in Zukunft zunehmen sollen, müssen auch die Schulden steigen. Gleichzeitig besteht aber auch der Zwang, höhere Gewinne zu erzielen, damit die Zinsen und erwarteten Renditen bezahlt werden können. Daraus entsteht eine Wachstumsspirale. Wenn die Schuldenlast nicht mit weiteren Schulden getragen werden sollte, müsste das Wirtschaftswachstum in der Zukunft so steigen, dass der Mehrwert so hoch ist, dass die heute zusätzlich aufgenommen Schulden inklusive Zinsen in Zukunft getilgt werden können.
Seit dem Niedergang des Bretton-Wood-Systems wurde die Knappheit in der Finanzwirtschaft aufgelöst, die Schulden wuchsen aber im Verhältnis deutlich schneller als die Realwirtschaft.
Die Staatsausgaben der USA stiegen nach der Finanzkrise 2008 von 10 Billionen US-Dollar im Jahr 2008 auf 16,1 Billionen US-Dollar im Jahr 2012. Bis zum Jahr 2019 sind diese Schulden auf 22 Billionen US-Dollar angewachsen (U.S. Department of the Treasury 2020).
Während der Anteil der Staatsverschuldung am Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2001 bei 54 % lag, ist die Verschuldung bis 2008 moderat auf 64 % angestiegen. Bis zum Jahr 2012 gab es jedoch einen starken Anstieg der Staatsverschuldung auf 100 % des Bruttoinlandsproduktes, sie stieg bis 2019 um weitere 5 % Punkte an (Federal Reserve Bank of St. Louis and U.S. Office of Management and Budget, Federal Debt 2020).
Die zunehmende Inflation auf Grund von Lieferengpässen durch die Covid-19 Pandemie und durch den Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 zwang Zentralbanken zur Zinswende. Die steigenden Zinsen führen dazu, dass Kreditausfälle zunehmen, wodurch eine Finanzkrise wahrscheinlicher wird. Zur Vermeidung von Stress im Finanzsystem müsste die restriktivere Geldpolitik wieder zurückgefahren werden (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich 2022).
Beispielsweise haben die Zentralbanken als Reaktion auf den globalen Schock der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020 sehr schnell und in massivem Umfang reagiert. Industrieländer weiteten dabei besonders bestehende Maßnahmen zur Kreditvergabe und den Kauf von Vermögensgegenständen aus. Auch die Zentralbanken der Entwicklungsländer weiteten ihre Finanzierungsoperationen aus. Sie passten jedoch stärker die Zinsraten, Devisen- und Reservepolitik und weniger den Kauf von Vermögensgegenständen an (Bank für Internationalen Zahlungsausgleich 2021).
Zwar konnten sich die Aktienkurse dadurch schnell erholen (Jonathan 2020, S. 96), aber durch die Maßnahmen stieg Anfang 2020 die Neuverschuldung der globalen Gesamtschulden im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt auf ein Rekordniveau in Höhe von 331 % (Institute of International Finance 2020). Im zweiten Quartal 2021 stieg die globale Gesamtverschuldung auf insgesamt 296 Billionen US-Dollar – 36 Billionen US-Dollar mehr als vor der Covid-19-Pandemie – und erreichte damit ebenso ein Allzeithoch (Institute of International Finance 2021).
Die Differenz zwischen dem Geldwachstum und dem realen Wirtschaftswachstum wird immer größer. Mit den höheren Schulden müsste in Zukunft also ein immer höherer Mehrwert erzielt werden. Mit den abnehmenden Wachstumsraten der Weltwirtschaft (World Bank 2021) werden jedoch zunehmende Mehrwerte in der Zukunft immer utopischer. Ein immer größerer Teil der Schulden kann nicht durch tatsächliche Mehrwerte getilgt, sondern muss durch die Aufnahme von neuen Schulden kompensiert werden, die das Problem verschärfen, da sich die Finanzwirtschaft immer weiter von der Realwirtschaft entfernt. Je schneller die Finanzwirtschaft im Verhältnis zur Realwirtschaft wächst, umso höher müssten zur vollständigen Tilgung die zukünftigen Mehrwerte und Gewinne sein und umso wahrscheinlicher wird es, dass Schulden nur noch mit neuen Schulden getilgt werden können. Es entsteht ein Ponzi-System ohne reale Mehrwerte. Das Finanzsystem agiert immer unabhängiger von der Realwirtschaft.
Im Finanzsystem kann mit Geld Geld verdient werden, ohne dass realwirtschaftliche oder innovationsbezogene Zahlungen beteiligt sind. Dies wird mit der Verarbeitung von Risiken gerechtfertigt. Im Grunde werden jedoch Schulden mit Schulden bezahlt. Damit bezieht sich das Finanzsystem auf sich selbst (Luhmann 1988, S. 144).
Es ist oft nicht vorstellbar, was Finanzkapital ist, da es nahezu unmöglich ist, es zu bestimmen. In der Realwirtschaft wird der Wert einfach anhand des Tauschwertes festgelegt. Im Finanzsystem gibt es beliebig viele Ansätze. Es ist eine reflexive Beschreibung von Geld, also der Wert des Wertes, der über die Realwirtschaft hinausgeht – eine Einheit, die symbolisch auf gesellschaftlicher Ebene konstruiert wird (Willke 2007, S. 146).
Die Investition von Geld in Geld ist die elementare Operation des Finanzsystems. Investments sind daher eine rekursive und reflexive Verwendung von Geld. Diese Reflexivität führt zu einer Abkopplung der Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft (Willke 2007, S. 149).
Selbst die Finanzkrise konnte die zunehmende Selbstreferenz des Finanzsystems nicht aufhalten. Da sich die Operationen des Finanzsystems immer stärker auf sich selbst beziehen, verliert das Finanzsystem allmählich den Bezug zur Realwirtschaft (Willke 2007, S. 148).
Wenn die Schulden schneller wachsen als das Wirtschaftswachstum und die Gewinne, die notwendig sind, um die Zinsen und Renditen zu zahlen, können die Schulden nur durch zusätzliche Schulden getilgt werden, wodurch ein Ponzi-Schema entsteht, das sich nur durch weitere Schulden stabilisieren lässt.
Die pathologische Selbstreferenz der Finanzwirtschaft wegen der fehlenden Beschränkung führt zu einer Gefährdung der Realwirtschaft. Die Finanzwirtschaft gefährdet ihre eigene Grundlage durch eine schlagartige Zerstörung aufgrund einer globalen Finanz-/Währungskrise und durch einen schleichenden Prozess, der darin besteht, dass immer weniger innovationsbezogene Zahlungen getätigt werden.
Mit Blick auf das höhere Schulden- bzw. Kapitalwachstum im Verhältnis zum Wirtschaftswachstum, was durch den Zusammenbruch des Bretton-Wood-Systems seit den 1970er Jahren bedingt ist, wird deutlich, dass es sich hier also um eine Entwicklung handelt, die weit über eine Finanzkrise hinausgeht und eine langfristige Entwicklung darstellt, die Mises bereits 1924 beschrieb.
Den Zusammenbruch hinauszuschieben, wären die Banken allerdings in der Lage, aber schließlich muß dann doch […] einmal der Augenblick kommen, in dem eine weitere Ausdehnung der Umlaufsmittelzirkulation nicht mehr möglich ist. Dann muß die Katastrophe eintreten, und ihre Folgen sind um so schwerer, die Reaktion gegen die Auswüchse der Haussespekulation um so stärker, je länger der Zeitraum gewesen ist, in dem der Satz des Darlehenszinses sich unter dem Niveau des natürlichen Kapitalzinses befunden hat, und je mehr durch die Lage des Kapitalmarktes nicht gerechtfertigte Produktionsumwege eingeschlagen wurden. (Mises 2005, S. 375)
Selbst wenn die Kredite unendlich ausgeweitet würden, entstünde eine Katastrophenhausse, die mit einem Zusammenbruch des gesamten Währungssystems endete (Mises 1998, S. 552).
Wenn bei einer neuen Finanzkrise das Kartenhaus nicht zusammenfallen soll, müsste im Sinne eines Ponzi-Schemas die Schuldenlast durch weitere Schulden getragen werden, sodass die Rettungsprogramme noch deutlich extremer ausfallen würden als nach der Finanzkrise 2008 und dem globalen Schock der Covid-19-Pandemie im Jahr 2020.
Die Herausforderung durch den Kapitalmarkt entsteht durch die Unsicherheit der Zukunft. Alle Transaktionen mit einem Bezug zu Finanzkapital beziehen sich auf eine Vielzahl von interdependenten zukünftigen Ereignissen, Abzinsungsfaktoren, Erwartungen, Marktentwicklungen und Kapitalflüssen. Ein Sinn kann nur erzeugt werden, wenn hypothetische Annahmen über zukünftige Bedingungen getroffen werden. Da diese zeitabhängigen Kategorien in einer nichttrivialen Form miteinander interagieren, sind sie kaum nachvollziehbar (Willke 2007, S. 152).
Mit Geld lassen sich die Unsicherheiten der Zukunft verarbeiten, denn durch einen Bezugspunkt in der Zukunft kann eine Konstruktion der Zukunft in der Gegenwart erzeugt werden (Esposito 2016). Mit der Berücksichtigung von möglichen Risiken wird versucht, die Unsicherheiten abzubilden, wodurch die Zukunft verarbeitbar wird (Esposito und Corti 2010). Allerdings können die Gefahren der Umwelt nicht gesehen werden, weshalb immer unerwartete Folgen entstehen, die zu Finanzkrisen führen können.
So hat seit den 1980er Jahren die Reaktion auf Krisen die Grundlage für weitere Krisen geschaffen, wodurch ein Schneeballeffekt entsteht, bei dem das Risiko immer weiter anwächst (Willke 2007, S. 162).
Auch die Finanzkrise 2008 deutet darauf hin, dass die Zukunft hinsichtlich ihrer Risiken und mit den verwendeten Konzeptionen inadäquat gemanagt wurde. Wegen der zeitlichen Perspektive auf das Finanzsystem kann die quantitative Lockerung der Geldpolitik nicht nur als Finanzspritze, sondern auch als eine Injektion von Zeit in die Märkte verstanden werden. Dies baut auf der Hoffnung auf, dass in dieser Zeit die Zukunft genutzt und neu konstruiert wird (Esposito 2016).
Mit der zunehmenden Größe der Finanzwirtschaft im Verhältnis zur Größe der Realwirtschaft wird zwar mehr Zukunft in die Gegenwart integriert, es wird dadurch aber zugleich immer unwahrscheinlicher, dass der erwartete Mehrwert erreicht wird. Denn je größer die Finanzwirtschaft im Verhältnis zur Realwirtschaft, desto mehr Zeithorizonte werden gesetzt und desto mehr Unsicherheiten müssen in immer granulareren Risiken angenommen werden. Dadurch steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die immer dezidierteren Annahmen über die Zukunft enttäuscht werden. Das enorme Wachstum der Finanzwirtschaft macht daher Finanzkrisen durch systemische Risiken wahrscheinlicher und verhindert somit die Entwicklung der Realwirtschaft, wodurch, sofern die realwirtschaftlichen Wachstumsraten nicht erhöht werden können, ein totaler Kollaps immer wahrscheinlicher wird.
Außer durch eine schlagartige Zerstörung mittels einer globalen Finanz- und Währungskrise gefährdet die Finanzwirtschaft ihre eigene Grundlage auch durch einen schleichenden Prozess, da immer weniger innovationsbezogene Zahlungen getätigt werden.
Die Verschiebung der Bedeutung und der Macht von der Realwirtschaft zur Finanzwirtschaft wird auch als Finanzialisierung bezeichnet (Bresser-Pereira 2010; Epstein 2019). Die Deregulierung und Aufhebung der Schranken des Finanzsystems in Zeiten des Finanzmarkt-Kapitalismus (Windolf 2005, S. 22 ff.) ab den 1970er Jahren führen zu einer Ausbreitung von Finanzprodukten und einer Ökonomisierung der Finanzbeziehungen, wodurch der Shareholder-Value als Steuerungsgröße bei Unternehmen an Bedeutung gewann (Froud et al. 2010; Lazonick und O'Sullivan 2010; Williams 2010; Heires und Nölke 2011). Die Finanzwirtschaft wächst deutlich schneller als die Realwirtschaft (Hudson 1998), und es werden dort mehr Umsätze generiert (Krippner 2005, S. 182 ff.).
Während der Finanzsektor 1978 etwa 3,5 % des US-amerikanischen Bruttoinlandsproduktes umfasste, stieg der Anteil bis zum Jahr 2007 auf 5,9 %. Während die Gewinne der Realwirtschaft im Durchschnitt um 250 % zwischen 1980 und 2005 stiegen, lag die durchschnittliche Gewinnsteigerung der Finanzwirtschaft bei 800 % – bis dahin stiegen sie im gleichen Verhältnis an. Investmentbanken hielten ein Vermögen in Höhe von 33 Milliarden Dollar, was 1,3 % des Bruttoinlandsproduktes entspricht, das bis zum Jahr 2007 auf 3,1 Billionen Dollar anstieg und somit eine Größenordnung von 22 % des Bruttoinlandproduktes erreichte (Johnson und Kwak 2011, S. 59 ff.).
Auch The Financial Crisis Inquiry Commission (2011, S. 65) beschreibt, dass von 1987 bis 2007 die Schulden, die vom Finanzmarkt getragen wurden, von 3 Billionen auf 36 Billionen US-Dollar anstiegen und sich damit von 130 % auf 270 % des Bruttoinlandsproduktes verdoppelten. Von 1990 bis 2005 verdoppelte sich der Anteil, der von den 10 größten kommerziellen Banken getragen wurde, auf 55 % des Vermögens der Realwirtschaft. Auch der Anteil der Gewinne des Finanzsektors an den gesamten Gewinnen stieg von 15 % im Jahr 1980 auf 27 % im Jahr 2006 (The Financial Crisis Inquiry Commission 2011, S. xvii).
Produktive Arbeit, die realwirtschaftlichen Mehrwert erzeugt, verliert an Bedeutung, und die Finanzwirtschaft erzeugt immer mehr Gewinne durch immer höhere Erwartungen an einem Wertzuwachs von Vermögen, obwohl die Realwirtschaft weniger stark wächst.
Die Herausforderung des Wirtschaftssystems wird heutzutage weniger aus der Differenz von Kapital und Arbeit ersichtlich, sondern lässt sich eher anhand der Differenz zwischen Kapital und Unternehmen beschreiben.
Arbeit ist nicht die entscheidende Basis für eine Wertschöpfung, sondern eher die Organisation, in der und für die gearbeitet wird. Nur die unternehmerische Organisation ist in der Lage, die verschiedenen Produktionsfaktoren miteinander zu kombinieren und einen Wert zu schaffen. Damit wird auch die unternehmerische Organisation zum Spekulationsobjekt des Finanzsystems. Der entscheidende Konflikt besteht darin, dass das gleiche Kapital, das zur Spekulation verwendet wird, von den Unternehmersystemen genutzt wird, um neue Werte zu schaffen. Damit stehen die Zahlungen zur Spekulation in der Finanzwirtschaft in Konkurrenz zu den Zahlungen für die Wertschöpfung in der Realwirtschaft, und es entsteht ein Wettbewerb nicht nur zwischen Unternehmersystemen, sondern durch die Differenz aus Finanz- und Realwirtschaft, die zu einer deutlich höheren Dauerirritation führt als der Wettbewerb zwischen den Unternehmersystemen (Baecker 2003, S. 214).
Wegen der Selbstreferenz liegt die Beobachtungsperspektive des Finanzsystems stark auf der Systemrationalität, wodurch nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die gesellschaftliche Umwelt vernachlässigt wird. Das Ausbleiben des Versuchs, eine gesamtgesellschaftliche Rationalität durch einen Reentry in das System zu erreichen, führt dazu, dass die Konsequenzen für die eigenen Operationen nicht beachtet werden. Dies führt einerseits zu einer Perspektive mit einem verkürzten Zeithorizont zulasten einer langfristigen Perspektive, wodurch langfristige Folgen ignoriert werden. Andererseits werden auch negative Auswirkungen auf andere gesellschaftliche Funktionssysteme vernachlässigt, die zu negativen Rückwirkungen führen können.
Eine Diskrepanz des Zeithorizonts ist tief im Finanzsystem verankert. So werden die langfristigen Interessen von Investoren nicht berücksichtigt, da Intermediäre durch die Principle-Agent-Problematik falsche Anreize setzen. Dadurch sind auch Unternehmen nicht in der Lage, langfristig zu handeln, da der Fokus nur auf kurzfristigen Preisentwicklungen liegt (EU High-Level Expert Group on Sustainable Finance 2018, S. 12).
Die durchschnittliche Haltedauer von Vermögen ist in der EU von 8 Jahren auf 8 Monate gesunken. Das gesamte Portfolio wird alle 20 Monate erneuert. Verantwortlich dafür sind vor allem der Hochfrequenzhandel, eine zunehmende Anzahl an Finanzinstitutionen, die mit einem kurzen Zeithorizont arbeiten, wie beispielsweise Hedgefonds, und Leistungsbewertungen im Vergleich zum Wettbewerb oder Benchmarks, wodurch keine kurzzeitigen negativen Effekte toleriert werden (EU High-Level Expert Group on Sustainable Finance 2018, S. 46).
Kurzfristigkeit beschreibt einen zu starken Fokus auf kurzfristige Renditen auf Kosten einer langfristigen Wertsteigerung. Es kann auch als Unterinvestment in langfristiges Kapital betrachtet werden (EU High-Level Expert Group on Sustainable Finance 2018, S. 45).
Der Fokus auf kurzfristige Investitionen vernachlässigt langfristige Risiken und Chancen der Wertschöpfung. Es werden auch gesellschaftliche oder nachhaltigkeitsbezogene Vorteile nicht genutzt. Der Druck auf Unternehmen, sich kurzfristig zu orientieren wird erhöht, wodurch sie weniger strategisch handeln und keine langfristige Wertschöpfung erzeugen (UN Principles for Responsible Investment (UN PRI) 2016, S. 6).
Eine kurzfristige Orientierung widerspricht langfristigem Handeln, was für eine nachhaltige Entwicklung notwendig wäre (United Nations Environment Programme (UNEP) 2015, S. 10).
Nachhaltigkeit ist nicht mit einem kurzfristigen Zeithorizont möglich. Da Nachhaltigkeitsinvestitionen sich meist nur über einen längeren Zeitraum amortisieren, sind sie nicht mit einem kurzfristigen Investmenthorizont vereinbar. Die Tragödie des Zeithorizonts geht über Klimawandel hinaus und betrifft alle Bereiche der nachhaltigen Entwicklung (EU High-Level Expert Group on Sustainable Finance 2018, S. 45).
Es besteht im Finanzsystem eine „doppelte Kompression“, die eine Fehlfunktion darstellt (EU High-Level Expert Group on Sustainable Finance 2018, S. 12).
Es erfolgt sowohl eine Kompression von Zeit als auch von Risiken. Der Zeithorizont bei Finanzen ist üblicherweise viel kürzer als der Zeithorizont, der für die Lösung von gesellschaftlichen Herausforderungen notwendig ist. Zudem ist die Konzeption von Risiken im Finanzsystem oftmals enger als es für eine effektive wirtschaftliche, soziale und ökologische Steuerung von Nachhaltigkeit notwendig wäre (EU High-Level Expert Group on Sustainable Finance 2017, S. 19).
Durch die Reduktion der zeitlichen Sinndimension auf eine nahe Zukunft wird Kontingenz deutlich eingeschränkt. Damit wird gleichzeitig die Kontingenz in der sachlichen Dimension reduziert, da weniger Folgen und damit auch weniger Interdependenzen mit anderen Systemen betrachtet werden müssen.
Ein verkürzter Zeithorizont führt dazu, dass bestimmte soziale und ökologische Themen wie Ressourcenverknappung, die sich nur in einem sehr langen Zeithorizont materialisieren, zu Externalitäten werden. Da sie scheinbar nicht für den Finanzmarkt wesentlich sind, werden sie auch nicht ausreichend bei den Eigentümern und Vermögensverwaltern berücksichtigt, obwohl sie zu finanziellen Auswirkungen in der Realwirtschaft und damit auch bei den Anlegern führen können (EU High-Level Expert Group on Sustainable Finance 2017, S. 19).
Die Nichtberücksichtigung von Nachhaltigkeit birgt hohe Risiken (United Nations Environment Programme (UNEP) 2016, S. 33).
Da gesellschaftliche Risiken bisher nicht ausreichend im Finanzsystem berücksichtigt werden, entstehen bereits jetzt negative gesellschaftliche Effekte, die finanziell auf das Finanzsystem zurückwirken. Nachhaltigkeit und ein langfristiger Zeithorizont sind zwei Seiten einer Medaille. Wegen des kurzfristigen Zeithorizonts werden Nachhaltigkeitsthemen oftmals vernachlässigt (European Commission 2018, S. 3).
Mit der Ausdifferenzierung des Finanzsystems und der unbeschränkten Entwicklung einschließlich einer starken Selbstreferenz entstand ein Fokus auf eine reine Systemrationalität innerhalb der Finanzwirtschaft. Dadurch konnten die Auswirkungen auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Umwelt nicht berücksichtigt werden, und die Perspektive des Zeithorizonts wurde immer weiter verkürzt. Die Systemrationalität des Finanzsystems führt daher nicht nur zu einer allmählichen Zerstörung der Realwirtschaft und somit seiner direkten Umwelt, sondern trägt auch zur Zerstörung der Umwelt der Wirtschaft bei, die indirekt auch wieder auf das Finanzsystem zurückwirkt.
Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass das Wirtschaftssystem mit dem Medium „Geld“ eine enorme Leistungsfähigkeit erzielt, da die Resonanz von Irritationen der Umwelt durch die Operationsweise des Wirtschaftssystems mit einem binären Code begrenzt wird. Diese Reduktion ist allerdings nur zulasten einer Vernachlässigung anderer Themen möglich.
In der Realwirtschaft führt der selbstregulierende Markt mit der Gewinnorientierung zu einer Zerstörung der sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Grundlage, wodurch er sich selbst zerstört. Ebenso erzeugen das Wachstumsparadigma und der Fortschrittsglaube ökologische, aber auch gesellschaftliche Risiken, die auf das Wirtschaftssystem zurückwirken.
Die starke Reduzierung auf Geld führt zwar zu einer enormen Komplexität, die allerdings gleichzeitig zu einer Selbstgefährdung der Wirtschaft führen kann. In den Programmen der Wirtschaft wird die Umwelt nicht berücksichtigt. Durch den reinen Fokus auf das Wirtschaftliche im Wirtschaftssystem wurde es möglich, Entscheidungen schneller zu treffen und damit gleichzeitig eine höhere Komplexität aufzubauen. Diese Effizienzsteigerung geht zulasten von Redundanzen, die eine höhere Sicherheit gegenüber Risiken bieten. Die reine Reduktion der Kontingenz in der zeitlichen Sinndimension führt zu einer Steigerung der Kontingenz in der Umwelt der Wirtschaft. Die rücksichtslose Operationsweise führt zu einer Möglichkeitseinschränkung anderer Systeme, was zu so großen Nebenfolgen führt, dass sich das Wirtschaftssystem selbst gefährdet. Diese Selbstgefährdung führt zu einer Sinnkrise, da dem Wirtschaftssystem die Möglichkeiten fehlen, die Operationen fortzusetzen.
Durch die Einführung von Geld wurde eine Differenz zwischen der physischen und der monetären Sphäre geschaffen, wodurch die wirtschaftlichen Operationen getrennt voneinander in der Realwirtschaft und der Finanzwirtschaft laufen konnten. Wie wir jedoch in Abschnitt 2.​2.​2 gesehen haben, sind beide jedoch aufeinander angewiesen, und die Wirtschaft bildet die Einheit dieser Differenz. Die Realwirtschaft ist für Innovationen auf Zahlungen angewiesen, und das Finanzsystem benötigt Innovationen, um mit Zahlungsversprechen zu handeln. Durch diese Differenz wurde es jedoch möglich, dass die Operationen unabhängig voneinander in den Systemen verarbeitet werden konnten und die Paradoxie in den Hintergrund geriet. Dies ermöglichte den Aufbau enormer Komplexität.
Mit der eingeschränkten Beobachtungsperspektive auf rein Finanzielles entsteht jedoch eine kurzfristige Perspektive, die die Auswirkungen auf die Realwirtschaft vernachlässigt. Aufgrund eines unbeschränkten Schuldenwachstums wächst auch die Finanzwirtschaft deutlich schneller als die Realwirtschaft. Dadurch entstehen höhere Renditen als in der Realwirtschaft, wodurch mehr Kapital angezogen wird, das die Renditen in der Finanzwirtschaft weiter erhöht. Zahlungen entstehen zunehmend in der Finanzwirtschaft, ohne dass in der Realwirtschaft ein Mehrwert durch innovationsbezogene Zahlungen generiert wird. Da die Finanzwirtschaft aber auf realwirtschaftliche Zahlungen angewiesen ist, weil die realwirtschaftlichen Zahlungen eine Irritation darstellen, die dem Finanzsystem ein Anlass gibt, weitere finanzwirtschaftliche Zahlungen zu tätigen, zerstört das Finanzsystem so seine eigene Grundlage.
Gleichzeitig führt die größere Finanzwirtschaft im Verhältnis zur Realwirtschaft zu der Gefahr eines vollständigen Zusammenbruchs des Finanzsystems. Denn mit der hohen Anzahl an Schulden wird es immer unwahrscheinlicher, dass in der Zukunft die Mehrwerte zur Tilgung der Schulden tatsächlich in dem Umfang entstehen. Neben dem möglichen Vertrauensverlust müssen immer detailliertere Annahmen über die Zukunft getroffen werden, wodurch sich das Risiko erhöht, dass Nebenfolgen übersehen werden. Zur Verhinderung von Finanzkrisen müssen neue Schulden eingesetzt werden. Die Gefahr für einen Systemkollaps steigt, wodurch auch eine Zerstörung der Realwirtschaft droht.
Die Perspektive auf kurzfristige Renditen führt zu einer Fehlallokation, bei der Kapital nicht mehr dahin fließt, wo es in der Realwirtschaft den höchsten Mehrwert mit geringsten Risiken erzeugt. Dadurch wird das Knappheitsparadox nicht mehr so aufgelöst, dass die gegenwärtige Verteilung eine zukunftsstabile Vorsorge ermöglicht (Luhmann 1988, S. 64). Diese pathologische Selbstreferenz, in der sich Zahlungen und Zahlungsversprechen nur noch auf sich selbst beziehen, führt dazu, dass die Finanzwirtschaft ihre Umwelt und damit die Grundlage ihrer eigenen Operationen zerstört.
Die Systemrationalität des Finanzsystems führt aber nicht nur zu einer Zerstörung der Realwirtschaft und somit seiner direkten Umwelt, sondern trägt auch zur Zerstörung der Umwelt der Wirtschaft bei, die indirekt auch wieder auf das Finanzsystem zurückwirkt.
Durch die pathologische Selbstreferenz der Finanzwirtschaft verliert die Finanzwirtschaft an Sinn, und die Realwirtschaft wird auf einen nicht nachhaltigen Entwicklungspfad gelenkt.

3.3 Grenzen der politischen Steuerungsfähigkeit durch Kontingenz

Die ausdifferenzierte Gesellschaft und die Komplexität des Wirtschaftssystems mit der daraus resultierenden Kontingenz machen es dem politischen System immer schwerer, steuernde Eingriffe vorzunehmen, um die pathologische Selbstreferenz des Wirtschaftssystems aufzulösen und die Selbstgefährdung der Gesellschaft zu verhindern. Neben den Grenzen der politischen Steuerung des Wirtschaftssystems wird in diesem Kapitel beschrieben, welche grundsätzlichen Steuerungsmöglichkeiten bezüglich sozialer Systeme bestehen, ferner werden unterschiedliche Arten der Kontingenz beschrieben, die das politische System an einer Steuerung hindern.

3.3.1 Grenzen der politischen Steuerung des Wirtschaftssystems

In der Vergangenheit gab es immer wieder Versuche, mithilfe der Politik eine pathologische Selbstreferenz der Wirtschaft, die ihre eigenen Grundlagen zerstört, zu verhindern.
Während der Industrialisierung zerstörte der selbststeuernde Markt Menschen, Natur und die Realwirtschaft und dadurch seine eigene Grundlage. Zum Schutz der Gesellschaft entwickelten sich Kritiker, die versuchten, die Kräfte des Marktes zu beschränken.
Der Owenismus war bestrebt, den selbststeuernden Markt durch eine politische Steuerung zu begrenzen. Mithilfe von Gesetzen sollten die Menschen und die Umwelt vor der Ausbeutung des Marktsystems geschützt werden. Auch Organisationen sollten durch Steuerung des Finanzsystems vor einer Zerstörung bewahrt werden (Polanyi 1978, S. 180 ff.). In vielen Ländern folgten nach der Laissez-faire-Politik, unabhängig von der politischen Ideologie, politische Maßnahmen, die auf den Erhalt der Arbeiter, der Natur und der Realwirtschaft abzielten (Polanyi 1978, S. 203 ff.).
So sollte beispielsweise das Speenhamlandsystem durch lohnergänzende Zahlungen Arbeiter vor Armut schützen. Nachdem es jedoch scheiterte, da die Löhne dadurch nicht stiegen, sondern das gesamte Lohnniveau absank und die Armut zunahm, entstand in England eine Arbeiterbewegung, die sich durch Gewerkschaften und Parteien politisch engagierte. Auf dem europäischen Festland konnten die Arbeiter während der später erfolgenden Industrialisierung direkt auf die Erfahrungen in England zurückgreifen, weshalb die Arbeitsbedingungen nie so erschütternd waren wie in England. Eine Sozialversicherung entstand viel früher, da auch Arbeiter viel früher das Wahlrecht erhielten. Die Gewerkschaften entstanden dadurch aus politischen Parteien, während in England die Gewerkschaften erst die Parteien gründeten. Beide Wege sorgten für den Schutz der Arbeitskraft vor dem Markt. Denn bei einem reinen Marktsystem würden die Löhne mit den Preisen fallen, und Arbeiter wären absoluter Unsicherheit ausgesetzt und müssten höchste Mobilität und Flexibilität zeigen. Durch sozialen Schutz wurde der Markt begrenzt und eine solche Entwicklung verhindert. Der Markt sollte nur weiterarbeiten, wenn die Arbeit menschenwürdig erledigt werden konnte. Eingriffe waren daher bewusst so gestaltet, dass der Markt nicht mehr perfekt funktionieren konnte (Polanyi 1978, S. 231 ff.).
Diese politischen Bestrebungen sorgten bei den Kapitalisten, die sich weiterhin für einen selbststeuernden Markt einsetzten, für eine Gegenkraft, die zum Erhalt der wirtschaftlichen Substanz beitrug (Polanyi 1978, S. 214).
Auch während der Industrialisierung gab es Versuche, den Zugriff auf ökologische Ressourcen zu begrenzen und den Markt zu beschränken, indem insbesondere der Umgang mit Boden reguliert wurde.
So wurde bei der Entstehung der Marktwirtschaft Boden zuerst gehandelt. Danach erfolgte die Steigerung der Produktivität des Bodens, um die steigende Bevölkerung zu ernähren. Als Letztes fand eine Ausdehnung der Überproduktion auf Kolonien und das weitere Ausland statt. Damit war der Boden Teil des selbstregulierenden Marktes geworden. Die Reaktion der Arbeiter und Bauern auf die Marktwirtschaft führte zum Protektionismus, wodurch neben den sozialen Fabrikgesetzen auch Agrarzölle und Bodengesetze geschaffen wurden. In der daraus resultierenden Wirtschaftskrise versuchten die Bauern jedoch, das Marktsystem zu erhalten, während die Arbeiter nicht davor zurückscheuten, den Markt zu zerstören (Polanyi 1978, S. 245 ff.).
Aus diesen Ausführungen geht hervor, dass in der Industrialisierung die Begrenzung der Marktwirtschaft für einen Erhalt der Natur stark in Zusammenhang mit den sozialen Auswirkungen betrachtet wurde. Wie folgende Beispiele zeigen, gewann eine explizite Betrachtung der ökologischen Umwelt erst in der Nachkriegszeit an Bedeutung. Nachdem die ökologische Krise durch die Kritik der ökologischen Bewegung deutlich sichtbarer wurde, entwickelte sich ein politischer Schutz, der die Zerstörung der ökologischen Grundlage durch die Wachstumsbestrebungen des Wirtschaftssystems mithilfe direkter Eingriffe verhindern sollte.
In den USA geht die ökologische Bewegung auf aufklärende Arbeiten wie die von Carson (1963) oder Ehrlich et al. (1971) zurück. Mit der Gründung von NGOs wie dem World Wide Fund For Nature (WFF) (2020) im Jahr 1961 und Greenpeace (2020) im Jahr 1971 wurde ein politischer Aktivismus gestartet und mit internationalen Konferenzen wie 1949 die UN Scientific Conference on the Conservation and Utilization of Resources (Gibboney 1949) oder die Konferenz der United Nations (1992) über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro im Jahr 1992 eine politische Debatte initiiert. Im Jahr 1970 erfolgte in den USA die Gründung der United States Environmental Protection Agency (EPA) (2020), und wesentliche Meilensteine der Umweltgesetzgebung wurden erreicht, wie mit dem Clean Air Act (United States Congress 1963), dem National Environmental Policy Act (United States Congress 1969), dem Clean Water Act (United States Congress 1972) und dem Endangered Species Act (United States Congress 1973). In Europa führte die große Smog-Katastrophe in London 1952 zum Clean Air Act 1956 (Parliament of the United Kingdom 1956). 1972 wurde auf der UN Conference on the Human Environment in Stockholm (Vereinte Nationen 1972) das UN-Umweltprogramm (United Nations Environment Programme (UNEP) 2012) gegründet. Nach der Pariser Gipfelkonferenz waren der Rat der Europäischen Gemeinschaften und die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (1973) mit der ersten Erklärung zur Umwelt- und Verbraucherschutzpolitik bestrebt, die Lebensqualität durch die Vermeidung von Umweltbelastungen zu verbessern. Diese Erklärung war der Beginn der EU-Umweltpolitik. Mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte (Europäische Gemeinschaften 1987) wurde der Schutz der Umwelt erstmals in einem Artikel (Art. 25) festgehalten. Mit dem Vertrag von Maastricht (Europäische Union 1992) und dem Vertrag von Amsterdam (Europäische Union 1997) konnte der Umweltschutz gestärkt werden, und durch den Vertrag von Lissabon (Europäische Union 2007) sind die Bekämpfung des Klimawandels und die nachhaltige Entwicklung zu wesentlichen Zielen erklärt worden.
Es wurde versucht nicht nur den Menschen und die Natur, sondern auch die Realwirtschaft vor dem zerstörerischen Marktmechanismus zu schützen. Der Aufbau des Zentralbankwesens sollte eine Geldschöpfung ermöglichen, die Unternehmen vor dem Marktsystem schützt. Zentralbanken entstanden als Folge der Auswirkungen des Goldstandards, der als ein internationales System von Warengeld betrachtet werden kann, und des Bestrebens nach stabilen Währungskursen. Hartgeld bzw. Gold ist für eine nationale Wirtschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr ausreichend, da die Geldmenge nicht flexibel an eine plötzliche Zunahme an Transaktionen angepasst werden kann. Wenn zu wenig Geld im Markt ist, müssten entweder die Geschäfte eingeschränkt werden oder die Preise sinken, wodurch die Konjunktur zurückginge und Arbeitslosigkeit entstünde. Durch die Deflationseffekte des Goldstandards im 19. Jahrhundert wurde die Realwirtschaft desorganisiert, und die Arbeitslosigkeit stieg enorm an. Ähnlich wie bei Arbeit und Boden führte die Warenfiktion von Geld zu einer Ausbeutung des Marktsystems, was zu einer Gefährdung der Gesellschaft führte. Durch das Warengeld wurde das Preisniveau gefährlich reduziert, was die Produktionsbetriebe gefährdete. Die Deflationstendenzen von Wirtschaften mit Münzen konnten durch Geld aufgehoben werden. Der Eingriff mit Geldpolitik war somit eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren der Marktwirtschaft. Das grundsätzliche Problem bestand darin, dass Geld rein wirtschaftlich und nicht mehr politisch betrachtet worden ist. Geld wurde aber nie vollständig von der Politik getrennt, die für die Aufrechterhaltung des Wertes von Geld sorgte und es als Zahlung von Steuern akzeptierte. Geld ist nicht nur Tauschmittel und somit eine Ware, sondern es ist Kaufkraft (Polanyi 1978, S. 260 ff.).
Ein weiteres Beispiel für eine Warenfiktion von Geld zeigt das Triffin-Dilemma. Es beschreibt einen Fehler im Bretton-Wood-System, wonach die Liquidität und damit die Zahlungen in der wachsenden Weltwirtschaft durch die begrenzten Goldbestände nur aufrechterhalten werden konnten, indem die USA zusätzliche US-Dollars schöpften und das Zahlungsbilanzdefizit enorm anstiegen ließen. Damit existierte eine immer größere Dollarmenge, die nicht mit Gold gedeckt war. Als Frankreich forderte, eigene Dollarreserven in Gold zu konvertieren, war dies nicht möglich, wodurch das Vertrauen in das System sank (Triffin 1978, S. 2 ff.). Nach Ölkrise, Stagflation und Umweltkrise trat die USA 1971 aus dem Bretton-Wood-System aus, wodurch sie wieder deutlich höhere Schulden, u. a. zur Finanzierung des Vietnamkrieges, machen konnten (Graeber und Schäfer 2014, S. 476 ff.).
Erst mit der Auflösung der starren Wechselkurse konnten wieder mehr Schulden gemacht werden, sodass wieder mehr Kaufkraft für Innovationen zur Verfügung stand, mit denen ein Mehrwert und damit Wachstum erzeugt werden konnten. So konnte der Erhalt der Funktion des Wirtschaftssystems gesichert werden. Allerdings wurde die expansive Geldpolitik immer extremer, weshalb die unkontrollierte Geldschöpfung zu einer ähnlichen Bedrohung wurde, wie es die Deflationstendenzen durch Warengeld geworden sind. Daher folgte auf dem Neoliberalismus in der Finanzpolitik eine Tendenz zu einer schärferen Regulierung, um die Realwirtschaft zu schützen. Insbesondere nach der Finanzkrise 2007 wurde von den G20-Staaten eine bessere Regulierung der Finanzmärkte gefordert. Gleichzeitig wollten sie jedoch Protektionismus verhindern, um den freien Markt und offenen Handel zu erhalten. Auf Basis von Einzelmaßnahmen sollte die Entstehung einer erneuten Finanzkrise verhindert werden (Group of Twenty (G20) 2008). Auf einem Folgetreffen im Jahr 2009 in London verabschiedeten die G20-Staaten Konjunkturprogramme, die die Funktionsweise der Realwirtschaft wiederherstellen sollten und ein höheres Wirtschaftswachstum als Ziel verfolgten (Group of Twenty (G20) 2009).
Seit der Industrialisierung gab es Versuche, die Umwelt der Real- und Finanzwirtschaft vor den negativen Auswirkungen eines unkontrollierten Wachstums zu schützen. Die politischen Maßnahmen stießen aber immer wieder an Grenzen, da sie die Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems begrenzten, wodurch sie zugleich die Operationsweise der Wirtschaft blockierten.

3.3.2 Steuerungsmöglichkeiten sozialer Systeme

Eine ausdifferenzierte Gesellschaft ist wesentlich komplexer und damit zugleich auch kontingenter. Die Entscheidungsmöglichkeiten nehmen zu. Sinn entsteht nur, wenn aus der Differenz von Aktualität und Potenzialität die Möglichkeit gewählt wird, die weiteren Sinn ermöglicht. Im folgenden Kapitel wird beschrieben, wie Kontingenz in den verschiedenen Sinndimensionen aufgrund der Ausdifferenzierung zunimmt und es für das Politiksystem mit den bisherigen Strukturen immer schwieriger wird, eine sinnvolle Möglichkeit zu wählen und damit eine Fortsetzung von Sinn zu ermöglichen.
Aus systemtheoretischer Sicht arbeitet das politische System mit Macht, wodurch es nur begrenzt eine gesamtgesellschaftliche Rationalität erreichen kann.
In der Politik „geht es um Innehaben bzw. Nichtinnehaben der Positionen, in denen öffentliche Gewalt ausgeübt werden kann und von denen aus sich regulieren lässt, wer politischen Einfluss hat, in welchen Angelegenheiten und wieviel.“ (Luhmann 1986, S. 170) Das heißt, der Code der Politik unterscheidet zwischen Macht haben und keine Macht haben. Damit ist gewährleistet, dass politische Ämter besetzt sind und die Autopoiesis fortgesetzt werden kann. Im Gegensatz zu den anderen Systemen ist jedoch eine Differenz dieses Codes zum Programm notwendig. Denn nur wenn eine politische Opposition mit einem anderen Politikprogramm vorhanden ist, kann das Politiksystem korrekt arbeiten. Zur Überbrückung dieser Differenz gibt es eine Zweitcodierung, die unterscheidet, ob eine restaurative (konservative) oder progressive Politik bzw. ein restriktives bzw. expansives Staatsverständnis vorhanden ist. Zur Umsetzung ihrer Macht kann sie zum einen dafür sorgen, dass neues Recht durchgesetzt wird, und zum anderen kann sie sich unbegrenzt Geld besorgen. Diese Maßnahmen haben jedoch Grenzen. Die Resonanzfähigkeit gegenüber der Umwelt ist durch räumliche und zeitliche Grenzen beschränkt. Denn über den Territorialstaat hinaus fehlen bisher wirksame Regulierungen, die gesamtgesellschaftliche Herausforderungen angehen. Daneben existiert ein zeitliches Problem, die gesellschaftliche Umwelt umfassender zu berücksichtigen, da die Wettbewerbsdemokratie ihre Themen nach den Wahlen ausrichten muss und aus politischen Gründen oftmals bestimmte Vereinbarungen nicht infrage gestellt werden. Mit diesen Einschränkungen, die es nach Luhmann immer gibt, sieht er jedoch nicht die Möglichkeit verwehrt, dass beispielsweise ökologische Themen in der Regierung berücksichtigt werden und sie somit mit dem politischen Code kompatibel sind (Luhmann 1986, S. 173 ff.).
Allerdings bestehen in der Politik Grenzen, wie die anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme und die Umwelt der Gesellschaft berücksichtigt werden. Gesellschaftliche und ökologische Themen aus der Umwelt der Politik können nur berücksichtigt werden, wenn sie mit dem politischen Code kompatibel sind (Willke 1993, S. 258). Eine gesamtgesellschaftliche Rationalität wird daher nur betrachtet, wenn sie mit der Systemrationalität vereinbar ist. Eine gesamtgesellschaftliche Steuerung ist so jedoch nicht möglich (Wiesenthal 2006, S. 32).
Der Steuerungsbegriff hat sich trotz der Realitätsferne etabliert, da sich durch Staatstheorie und Handlungstheorie ein kausales Denken von Subjekt-Objektbeziehungen etabliert hat (Wiesenthal 2006, S. 34 f.). Der Glaube an eine zentrale Gesellschaftssteuerung durch die Politik hat historische Gründe, denn die Politik galt lange Zeit als Spitze der Gesellschaft. Zudem ist sie in der Lage, kollektiv bindende Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen (Strulik 2000, S. 108).
Die Überlegungen zur Steuerung haben ihren Ursprung in der politischen Planung, die seit der großen Depression versuchte, durch staatliche Interventionen wirtschaftliche und soziale Vorgaben zu machen. Dieses kybernetische Steuerungsverständnis geriet in den 1980er Jahren durch die zunehmenden Unsicherheiten und Legitimationsschwierigkeiten auf Grund von Massenarbeitslosigkeit in Verbindung mit hoher Staatsverschuldung an seine Grenzen. Damit wurde die Begrifflichkeit „politische Planung“ vom Begriff „Steuerung“ abgelöst. Dieser wurde sowohl von Handlungstheorien, bei denen Akteure im Mittelpunkt stehen, als auch von der Systemtheorie, die eher eine gesellschaftliche Selbststeuerung beschreibt, verwendet (Wiesenthal 2006, S. 19 ff.).
Nach der Systemtheorie können sich die ausdifferenzierten Funktionssysteme nicht gegenseitig steuern, sondern sich nur über die strukturelle Kopplung mehr oder weniger massiv irritieren. Sie sind von außen durch ihre Oszillation zwischen Fremd- und Selbstreferenz beeinflussbar, aber sie können von außen nicht definiert werden, denn die Entscheidung zur Anpassung wird vom System immer noch selbst getroffen. Es bleibt dem System überlassen, ob es eine Information als relevant für die Fortsetzung der eigenen Autopoiesis hält oder nicht. Damit ist zwar eine Auslösekausalität möglich, aber es besteht keine Durchgriffskausalität. Ob eine Irritation etwas im System bewirkt, ist abhängig von dem aktuellen Moment und Zustand des Systems und damit nicht von irgendwelchen Ursache-Wirkungsprinzipien (Luhmann 2000, S. 401).
In einem Streitgespräch zwischen Niklas Luhmann und Fritz W. Scharpf auf dem Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft am 12. September 1988 in Darmstadt wurden die unterschiedlichen Perspektiven der Systemtheorie und der Handlungstheorie auf den Steuerungsbegriff besonders deutlich.
Luhmann kritisiert aus Sicht der Systemtheorie, dass Handlungstheorien zur Steuerung von komplexen Gesellschaftszusammenhängen ungeeignet sind, da sie keine komplexen Kausalverhältnisse darstellen und auch nicht die Informationsdefizite im Zeitverlauf berücksichtigen können. Die Anwendung von Handlungstheorien in komplexen Situationen muss daher zwangsläufig Fehler enthalten und die Ergebnisse müssen gezwungenermaßen nach einer Umsetzung der Empfehlung mit unvorhergesehenen Nebenwirkungen relativiert werden. Weder die Gesellschaft noch ein politisches System sind damit in der Realität steuerbar (Wiesenthal 2006, S. 34).
Scharpf kritisiert die Systemtheorie, da sie ein sehr eingeschränktes Politikverständnis hat und damit Steuerungserfolge nicht sieht. Die Reduktion von Politik auf Macht führt dazu, dass nur die Dimension Politics der politischen Analyse betrachtet wird und Polity und Policy vernachlässigt werden. Dadurch könne Luhmann nicht sehen, dass die Funktionssysteme innerhalb und in Bezug auf Andere eigentlich ganz gut funktionieren. Da Luhmann sich nur auf die Differenz von Regierung und Opposition beschränkt, kann er sich zudem nur auf einen politischen Bereich beziehen, der Nullsummenspiele beschreibt. Scharpf bestätigt zwar die konzeptionellen Schwächen der Handlungstheorie, aber er kritisiert, dass der Akteur in der Systemtheorie nicht als komplexes System berücksichtigt wird, wodurch die Steuerungsskepsis entsteht. Die Systemtheorie überschätzt die gegenseitige Intransparenz von Systemen. Unterhalb der Ebene der Funktionssysteme, bei Organisationen, wird ersichtlich, dass dort mehrere Sprachen gesprochen werden. Diese Integrationsmöglichkeit von Organisationen und Individuen wird von der Systemtheorie ignoriert. Die Systemtheorie sollte sich daher mit der Steuerung von Politik und der Interaktion zwischen Akteuren auseinandersetzen. Da an einer politischen Steuerung immer mehrere Akteure mit unterschiedlichen Interessen beteiligt sind, ist die Handlungstheorie nicht in der Lage, Bedingungen so zu bestimmen, dass ein Steuerungserfolg garantiert werden kann. Durch die Berücksichtigung von Interdependenzen und verschiedenen Akteurskonstellationen kann aber eine begrenzte Anzahl an möglichen Resultaten bestimmt werden, weshalb davon auszugehen ist, dass nicht keine Steuerung möglich ist (Wiesenthal 2006, S. 37 f.).
Allerdings gehen die Theorien auch von einem unterschiedlichen Verständnis von erfolgreicher Steuerung aus.
Während Scharpf eher ein alltägliches Verständnis von Steuerung zugrunde legt, wonach eine Handlung etwas zu erreichen beabsichtigt, aber nicht klar ist, ob die erwünschten Ergebnisse erreicht werden können, hat Luhmann ein anspruchsvolleres Verständnis von Steuerung. Eine Steuerung liegt erst bei einem Systemwandel vor, bei dem das Steuerungsziel zuverlässig und vollständig erreicht wird, was üblicherweise nur durch eine systeminterne Steuerung möglich ist (Wiesenthal 2006, S. 38).
Nach Wiesenthal kritisiert die Systemtheorie, dass andere Theorien nicht in der Lage sind, Prognosen zu erzeugen, obwohl sie selbst dazu nicht in der Lage ist. Während Interaktionstheorien fähig sind, gewisse Tendenzaussagen zu treffen, die auch empirisch überprüft werden können, ist die Systemtheorie empirisch nicht sehr präzise und ermöglicht höchstens Tendenzaussagen. Andererseits können Interaktionstheorien auch keine Aufzählung bereitstellen, unter welchen Bedingungen eine Steuerung erfolgreich ist. Genauso ist aber auch die Systemtheorie nicht in der Lage, zu beschreiben, unter welchen Bedingungen ein Funktionssystem bei einem Umweltereignis mit Resonanz reagiert. Somit sind beide Theorien nur in der Lage, mögliche Wirkungen bei einer Veränderung zu bestimmen. Luhmanns Einwände hinsichtlich einer begrenzten Steuerungsfähigkeit aufgrund von Kontingenz sind berechtigt (Wiesenthal 2006, S. 39 ff.).
Auch Scharpf versucht nicht, diese Aussagen von Luhmann zu widerlegen. Auch wenn unter bestimmten Wahrscheinlichkeiten mögliche Steuerungseffekte ermittelt werden können, kann es keine Theorie geben, die dem Akteur alle Bedingungen für einen Handlungserfolg klar darstellt. Die Unsicherheit der Zukunft ist die größte Herausforderung der Steuerungstheorien (Wiesenthal 2006, S. 41).
Zusammenfassend gibt es zwar Möglichkeiten der Steuerung, die aber abhängig von der Evolution des Systems begrenzt sind. Je komplexer das System wird, umso schwieriger wird es, das System zu steuern. Da Luhmann davon ausgeht, dass gar nichts steuerbar ist, beschäftigt er sich auch nicht mit den Möglichkeiten, die zur Verfügung stehen, um die Evolution in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen (Wiesenthal 2006, S. 209 ff.).
Während Luhmann also davon ausgeht, dass keine Steuerung möglich ist, weicht Willke von der harten Definition des Steuerungserfolgs ab und sieht aus systemtheoretischer Sicht, dass eine Steuerung zwar nicht absolut sicher, aber doch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wirkt. Mit dieser Anerkennung von möglichen Steuerungswirkungen setzt er sich mit den Steuerungsmöglichkeiten aus systemtheoretischer Sicht auseinander. Demnach können andere gesellschaftliche Funktionssysteme durch Kontextsteuerung beeinflusst werden.
Nach Willke ist eine lineare Steuerung eine Illusion eines trivialen Steuerungsmodells und eine Differenzierung von Selbst- und Fremdsteuerung zu simplifizierend. Nichttriviale Systeme sind zwar nur durch Selbststeuerung veränderbar, aber sie können durch eine Kontextsteuerung beeinflusst werden (Willke 2005, S. 132 ff.).
Durch die „reflexive Modernisierung“ (Beck 2016, S. 16) entsteht eine Selbststeuerung, da bestehende Rationalitäten aufgebrochen werden, und mit dem zusätzlichen Wissen wird strukturelle Latenz sichtbar. Dadurch erkennt die Politik die eigenen Grenzen ihres Einflusses auf andere Systeme (Beck 2016, S. 369 ff.).
Durch Reflexion erkennt der Staat seine eigenen Grenzen der Steuerung und die Gründe für die Überforderung, wodurch er gleichzeitig die Erkenntnis gewinnt, wie ein höheres Leistungsniveau von Steuerung erzielt werden kann (Wiesenthal 2006, S. 69). So kann das politische System mithilfe von Kontextsteuerung andere gesellschaftliche Funktionssysteme beeinflussen (Strulik 2000, S. 109 f.).
Durch die Herstellung von strukturellen Kopplungen wird eine Resonanz in anderen Systemen erzeugt. Zwar ist die Steuerung auf ein Verständnis des anderen Systems angewiesen. Dies erreicht das politische System aber nur, indem durch die Einrichtung von neuen strukturellen Kopplungen Interdependenzen geschaffen werden, die durch einen rekursiven Lernprozess weitere Anpassungsmöglichkeiten schaffen. Policy-Netzwerke ermöglichen eine empirische Untersuchung von Supervision, da den beteiligten Systemen eine gewisse Selbststeuerung zugetraut wird (Strulik 2000, S. 123 ff.).
Das Steuerungsverständnis von Willke ist damit weniger streng an die Theorie von Luhmann angelehnt, der zufolge sich Systeme nur an ihrer eigenen Systemlogik orientieren, da strukturelle Kopplungen unter der Voraussetzung der Aufrechterhaltung der Autopoiesis eingegangen werden, wodurch Systeme ihre externen Auswirkungen reflektieren und damit einen Vorteil für alle Beteiligten schaffen können (Wiesenthal 2006, S. 70).
Wiesenthal geht davon aus, dass eine positive Steuerung aus systemtheoretischer Sicht nicht möglich ist, allerdings kann unter bestimmten Umständen Steuerung erfolgreich sein. Von welchen Bedingungen das abhängt und welche Ansätze wirken, kann jedoch nicht vorhergesagt werden. Eine positive Steuerungstheorie ist nicht möglich, da die Gesellschaft zu komplex ist, um sie entsprechend zu erfassen und zu verarbeiten. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass zukünftig Ansätze entwickelt werden, die eine solch komplexe Steuerung ermöglichen. Die Herausforderung besteht dann eher darin, dass diese Akzeptanz finden (Wiesenthal 2006, S. 197).
Aus systemtheoretischer Sicht kann durch das politische System keine direkte Steuerung mit sicheren Ergebnissen erfolgen. Aber die Beeinflussung des politischen Systems kann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit erfolgreich sein, weshalb die Politik durchaus Steuerungsmöglichkeiten besitzt.

3.3.3 Kontingenz der politischen Steuerung in der sachlichen, zeitlichen und sozialen Sinndimension

Die wesentliche Herausforderung für eine Steuerungstheorie besteht in Kontingenz. Die Grenzen der Steuerung, vor dem insbesondere das politische System steht, werden durch zunehmende Kontingenz sowohl in der sachlichen und zeitlichen als auch in der sozialen Sinndimension deutlich. Diese zunehmende Kontingenz erschwert es, im politischen System neuen Sinn zu finden und durch die Fortsetzung der eigenen Operationen neuen Sinn zu erzeugen.
Die Kontingenz in der sachlichen Sinndimension führt dazu, dass unerwartete Nebenfolgen durch Steuerungseingriffe entstehen.
Aufgrund der Ausdifferenzierung und der Bearbeitung mit einem binären Code müssen in den gesellschaftlichen Funktionssystemen andere Themen ausgeschlossen werden.
Durch die Unterscheidung eines „Designationswert[es]“ (Japp 1996, S. 40) und eines „Reflexionswert[es]“ (Japp 1996, S. 40), was im wirtschaftlichen Code beispielsweise Zahlungen und Zahlungsunfähigkeit entspricht, werden dritte Werte wie beispielsweise „Moral“ in der Politik ausgeschlossen. Da auf solche Werte auf der Ebene des Codes nicht Rücksicht genommen werden muss, steigt die Risikoaffinität. So wird beispielsweise der Opposition aus dem Zweck der Machterhaltung geschadet, ohne die Auswirkungen auf die Umwelt der Politik zu achten. Der binären Codierung ist Kontingenz inhärent, da eine Entscheidung für den Designationswert gleichzeitig am Reflexionswert gespiegelt wird – und damit immer auch die Möglichkeit, dass anders hätte entschieden werden können und die Entscheidung, wie sie getroffen wurde, vorher mit einer Unsicherheit verbunden war. Da in den gesellschaftlichen Funktionssystemen für die Aufrechterhaltung der Autopoiesis jedoch ein Selektionszwang besteht, ist jede Operation in allen Funktionssystemen mit einem Risiko verbunden. Mit der Ausdifferenzierung und den stärkeren binären Operationen wurde die Rücksichtnahme auf andere Werte vernichtet, weshalb mit der Ausdifferenzierung der Gesellschaft auch der Beginn einer enormen Risikoproduktion eingeleitet wurde (Japp 1996, S. 40 ff.).
Im Fall der gesellschaftlichen Funktionssysteme können die binären Codierungen nicht gleichzeitig die Kriterien für die Selektion sein. Während der Code des Funktionssystems unverändert bleibt, können die Kriterien, nach denen die Ausprägung des Codes definiert wird, vollständig geändert werden. Die Ausdifferenzierung der Gesellschaft ist daher nur durch eine Unterscheidung von zwei Ebenen möglich. Während Codes dafür sorgen, dass die Systeme geschlossen operieren, ermöglichen Programme eine Offenheit der Systeme, da sich innerhalb dieser Ebene die Kriterien für die Selektion befinden (Luhmann 1986, S. 82 ff.).
Aufgrund der Ausdifferenzierung erfolgt ein Redundanzverzicht, wodurch die Funktionssysteme nur eine sehr beschränkte Resonanzfähigkeit haben. Sie reagieren innerhalb ihrer Codes nur auf Umweltveränderungen, die für ihre funktionsspezifische Logik relevant sind. Das scheint aber eher die Ausnahme zu sein, da die gesellschaftlichen Funktionssysteme selbstreferenziell operieren. Prinzipiell ist jedoch zwischen den Systemen auch Kommunikation möglich, wenn es sich nämlich um Kommunikation handelt, die auch für die jeweiligen Codes der Funktionssysteme relevant ist. Die Kommunikation über bestimmte Ereignisse kann also sowohl positive als auch negative Auswirkungen auf andere Systeme haben. Voraussetzung für die Berücksichtigung der Umwelt und die Operationen der anderen Systeme ist einerseits die Codierung, da Umweltereignisse erst berücksichtigt werden können, wenn sie zu etwas in Relation gestellt werden können. Andererseits sind auch Programme notwendig, die Selektionskriterien implizieren, nach denen die Relevanz der Umweltereignisse überprüft wird. Erst wenn Umweltereignisse diese beiden Filter durchlaufen haben, sind sie systemrelevant und werden durch die internen Operationen verarbeitet und an die systembezogene Kommunikation angeschlossen (Luhmann 1986, S. 219 ff.).
Da die Funktionssysteme diese Irritation für die Fortsetzung ihrer Autopoiesis brauchen, entsteht ihre Geschlossenheit nur durch diese Offenheit. Die Paradoxie von Offenheit und Geschlossenheit wird durch diese Differenz der zwei Ebenen überwunden. Da sie aber nur das berücksichtigen, was systemrelevant ist, können sie nur beschränkt resonanzfähig gegenüber den Rückwirkungen auf andere Systeme sein (Japp 1996, S. 33).
Hinzu kommt, dass Themen aus der ökologischen Umwelt vom Gesellschaftssystem nur dann übernommen werden, wenn darüber kommuniziert wird. Es sind also insbesondere psychische Systeme notwendig, die ein Bewusstsein und die ökologischen Probleme wahrnehmen und darüber kommunizieren können (Luhmann 1986, S. 221).
Die Themen, die sich außerhalb der Umwelt befinden, stellen neben der Codierung und den Programmen der gesellschaftlichen Funktionssysteme einen zusätzlichen Filter dar, der es also schwer macht, dass ökologische Themen Anschluss an die jeweiligen gesellschaftlichen Funktionssysteme finden.
So führen die gesellschaftlichen Operationsweisen der Funktionssysteme auch zu einer Gefährdung der natürlichen Systeme, die die Umwelt der Gesellschaft darstellen. Zwar ignorieren die Funktionssysteme die Externalitäten, die sie erzeugen. Allerdings sind sie in der Lage, die daraus entstehenden Irritationen in der Umwelt wahrzunehmen, sobald sie eine Gefahr für die eigene Reproduktion darstellen (Melde 2012, S. 59).
Wegen des fehlenden Verständnisses für andere Systeme fehlt auch das Verständnis für mögliche Nebenfolgen, die in anderen Systemen entstehen. Durch die Spezialisierung der Ausdifferenzierung auf ganz bestimmte Funktionen können die Operationen der anderen Systeme und damit auch die Auswirkungen der eigenen Operationen auf die anderen Systeme immer weniger nachvollzogen werden, wodurch die Kontingenz in der sachlichen Dimension zunimmt.
Eine Herausforderung der Steuerung von sozialen Systemen besteht in der sachlichen Dimension.
Zu der eingeschränkten Beobachtungsperspektive der Systeme kommt hinzu, dass Systeme auf Basis eines aktuellen Zustands oder vergangener Erfahrungen gesteuert werden. Der angestrebte Steuerungszustand befindet sich jedoch in der Zukunft. Das heißt, während der Steuerung gibt es weitere Veränderungen, weshalb der angestrebte Steuerungszustand nie erreicht werden kann. Die Herausforderung besteht darin, dass in milliardenfacher Hinsicht gleichzeitig etwas anderes passiert, das man nicht kausal beeinflussen kann. Umwelt und Systeme müssen zukünftig als etwas anderes wahrgenommen werden. Da man aber nie sicher sein kann, was die Zukunft bringt, kann man nur in eine offene Zukunft steuern. Bereits die Verwendung von Steuerungsmitteln kann das System so verändern, dass es nicht mehr dem entspricht, was es am Anfang war. Dann kann es sein, dass die angestrebten Effekte schon vor der eigentlichen Steuerung eintreten und die Steuerung somit überflüssig machen. Eine Steuerung entsteht dann bereits durch die Setzung eines Signals, ohne dass ein Eingriff erfolgt (Wiesenthal 2006, S. 33 ff.).
Die Wirkungen von Steuerungen sind unvorhersehbar. Demnach kann es auch keine realistischen Prognosen geben, und eine Systemsteuerung in diesem Sinne ist nicht möglich. Die Politik ist nicht in der Lage, die Folgen ihrer Eingriffe abzuschätzen. Für sie kann es zwar nachvollziehbar sein, welche Handlungsmöglichkeiten aktuell bestehen, aber sie kann nicht antizipieren, wie die Handlungsmöglichkeiten sich im Zeitverlauf verändern (Wiesenthal 2006, S. 195 f.).
Kontingenz entsteht, wenn Entscheidungen hätten anders getroffen werden können. Durch Kontingenz wird jede Entscheidung riskant, da andere die Situation möglicherweise ganz anders sehen werden, aber diese Beobachtung bei der Entscheidung (noch) nicht vorliegt. Durch diese Intransparenz können unmöglich alle Folgen berücksichtigt werden (Japp 1996, S. 21 f.).
Da die Operationen sich in den gesellschaftlichen Funktionssystemen ununterbrochen erneuern und fortsetzen, ändert sich in jedem Zeitpunkt die Realität, wodurch es unmöglich ist, ohne Risiko zu entscheiden. Denn mit jeder weiteren Entscheidung, die parallel anderswo getroffen wird, steigt das Risiko, dass eine Entscheidung im Nachhinein anders gesehen wird. Durch die Differenz zwischen gegenwärtiger Zukunft und zukünftiger Gegenwart entsteht immer ein blinder Fleck, der nicht berücksichtigt werden kann (Japp 1996, S. 39 ff.).
Eine Steuerung durch einen direkten Eingriff in Systeme ist nicht erfolgversprechend, da jeder Steuerungsversuch nur den Versuch einer Beeinflussung darstellt. Neben der Selbststeuerung der autopoietischen Systeme kommt hinzu, dass während des Steuerungsversuchs viele weitere Ereignisse und Operationen der Systeme stattfinden, wodurch die erwarteten Steuerungsziele durchkreuzt werden (Strulik 2000, S. 109).
Durch die höhere Komplexität der Ausdifferenzierung und wegen der Globalisierung, der Umweltprobleme und des technologischen Wandels entsteht eine größere Notwendigkeit für eine politische Steuerung. Allerdings fehlen der Politik die Möglichkeiten, die immer weiter ausdifferenzierende Gesellschaft zusammenzuhalten, da die Demokratie nicht in der Lage ist, diese Probleme zu lösen (Wiesenthal 2006, S. 68).
Die Gesellschaft fühlt sich dem Fortschritt ausgesetzt, da keiner für die Nebenwirkungen verantwortlich ist. Die Politik kann nur noch im Nachhinein entscheiden, die Wirtschaft muss sich wirtschaftlichen Faktoren unterwerfen, und die Wissenschaft erzeugt nur Wissen, das wirtschaftlich verwertet, aber nicht als negative Kritik gegenüber dem Fortschritt verwendet werden kann. Nicht mehr Utopien, sondern die Nebenfolgen, die durch Wirtschaft und Wissenschaft erzeugt werden, bestimmen die Politik. Die Forschungspolitik läuft den Forschungen und Entwicklungen der Industrie hinterher, da mögliche Entscheidungen erst dann getroffen werden können, wenn die Vorhaben bereits realisiert worden sind (Beck 2016, S. 342 ff.).
In der ausdifferenzierten Gesellschaft nimmt die Kontingenz in der sachlichen Sinndimension zu, da die gesellschaftlichen Funktionssysteme die Folgen ihrer eigenen Operationen kaum abschätzen können. Dies liegt einerseits daran, dass sie durch ihren binären Code nur eine eingeschränkte Wahrnehmung der Umwelt haben. Sie können also nur bestimmte Sachverhalte wahrnehmen. Andererseits verändert sich die Umwelt jederzeit, weshalb Steuerungsversuche immer mit veralteten Sachständen arbeiten. Die eingeschränkte Wahrnehmung in Verbindung mit veralteten Sachverhalten führt bei der zunehmenden Komplexität dazu, dass unerwartete Nebenfolgen zunehmen.
Durch die hohe Unsicherheit der Zukunft, die durch eine Zunahme der sachlichen Kontingenz entsteht, wird der Betrachtungshorizont immer weiter verkürzt, wodurch sich auch eine Zunahme der Kontingenz in der zeitlichen Dimension ergibt.
Die Reduzierung der gesellschaftlichen Komplexität, indem sich die ausdifferenzierten Gesellschaftssysteme auf ihre systemrelevanten Sachverhalte reduzieren, ermöglicht den Aufbau von neuer Komplexität. Diese neue Komplexität bedarf einer erneuten Reduzierung, um sie verarbeitbar zu halten und die Autopoiesis der Systeme zu erhalten. Neben dem Ausschluss von allen nicht systemrelevanten Themen kann eine Komplexitätsreduktion auch durch eine Beschleunigung der Operationen erzielt werden, indem die Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft immer geringer wird (Japp 1996, S. 23).
Durch die Ausdifferenzierung werden Redundanzen reduziert, die früher besonders bei Moral und Familie zu finden waren. Allerdings entstehen gleichzeitig auch neue Redundanzen, da bei einer Veränderung eines Systems durch die Interdependenzen der Systeme Auswirkungen auf andere Systeme erzeugt werden. Die Folgen werden jedoch meist erst nach einer gewissen Zeitdauer sichtbar. Somit wird Komplexität temporalisiert. Präventionsmaßnahmen nehmen zu, um bei einem Auftreten dieser unerwarteten Folgeprobleme schnell reagieren zu können. Die Problematik von auftretenden Nebenwirkungen in der Zukunft wird gelöst, indem Möglichkeiten geschaffen werden, bei einer Nebenfolge sofort zu reagieren (Luhmann 1986, S. 209).
In komplexen Systemen sind mögliche Auswirkungen alternativer Möglichkeiten kaum voraussehbar und werden durch die Dauer der Informationsbeschaffung und -verarbeitung schnell zu einem zeitlichen Problem (Luhmann 2000, S. 404).
Mit steigender Komplexität verliert die Vergangenheit an Bedeutung, da die bisherigen Erfahrungen nicht ausreichen, um eine Situation mit riskanten Entscheidungen richtig einzuschätzen. Aufgrund der Zunahme der Nebenfolgen wird die Zukunft immer offener, sodass jede Festlegung riskanter wird. Andererseits müssen immer mehr Entscheidungen getroffen werden, weil auch immer mehr selektiert werden muss. Dadurch steigt die Abhängigkeit von Entscheidungen bei einem gleichzeitigen Bedeutungsverlust von Erfahrungen und Erwartungen (Strulik 2000, S. 116).
Der betrachtete Zeithorizont wird immer geringer, da jedes Ereignis auf mögliche Handlungen hochgerechnet wird und so jedes Ereignis bereits alle möglichen Konsequenzen auslöst. Dies wird vor allem durch neue Algorithmen bestimmt, die in der Lage sind, mögliche Handlungen zu kalkulieren, wodurch die Systeme immer komplexer, aber gleichzeitig auch kurzfristiger werden (Luhmann 1988, S. 104). Diese „Defuturisierung“ (Luhmann 1990, S. 130) führt zu einer erneuten Unsicherheit, wodurch der Zeithorizont weiter eingeschränkt wird (Strulik 2000, S. 117).
Da die Konsequenzen eines Steuerungseingriffes nie komplett berücksichtigt werden, muss bei jedem Versuch der Steuerung eine Korrektur erfolgen. Jede Steuerung bedarf daher einer weiteren Steuerung, wodurch sich Steuerung selber beschleunigt (Luhmann 2000, S. 404).
Bei selbstreferenziellen Gesellschaftssystemen beschleunigt sich mit der Ausdifferenzierung der Dauerzerfall der Elemente, aus denen sie bestehen. Sie erhalten sich selbst durch eine Temporalisierung der Komplexität. Die Verkürzung der Reaktionszeit bis zu momenthaften Ereignissen führt zu einer ständigen Reversibilität, die es dem System ermöglicht, mit der Irreversibilität der Zeit innerhalb des Systems umzugehen (Luhmann 1984, S. 77 ff.).
Je nach Funktion haben die Gesellschaftssysteme unterschiedliche Zeithorizonte. Während beispielsweise das Rechtssystem eher darauf abzielt, normative Erwartungen von Verhalten in einer unsicheren Zukunft zu stabilisieren, versucht das Wirtschaftssystem durch eine zukunftsstabile Vorsorge die gegenwärtige Verteilung zu sichern. Systemzeiten werden bei zunehmend komplexeren Systemen immer unterschiedlicher. Durch die Ausdifferenzierung von Systemen entwickeln Systeme eine eigene Systemzeit und werden von der Umweltzeit unabhängig. Nur mit einem Bezug zur Gegenwart, also der Differenz aus Vergangenheit und Zukunft, können die unterschiedlichen Zeithorizonte wieder integriert werden (Strulik 2000, S. 117 f.).
Die durch sachliche Kontingenz bedingte zeitliche Kontingenz führt auch zu einer Steigerung der sozialen Kontingenz.
Durch die Futurisierung, indem negative Aspekte beispielsweise durch Externalisierung auf die Zukunft verschoben werden, entsteht eine neue Spannung zwischen Zeitdimension und Sozialdimension. Denn von den zunehmenden unerwarteten Nebenfolgen der riskanten Entscheidungen können nicht nur die Entscheider selbst, sondern auch andere betroffen sein. Dies gilt beispielsweise für die Risiken des Bankensystems. Die Risiken eines kurzfristigen Zeithorizonts treffen nicht den Entscheider selbst, sondern bei einer Systemkrise alle. Die Regulierung kommt den zukunftsorientierten Entscheidungen nicht hinterher, da sie sich nur auf die bisherigen Erfahrungen stützen kann (Strulik 2000, S. 118 ff.).
Durch die Erhöhung der Kontingenz in der zeitlichen Sinndimension aufgrund der Zunahme der Kontingenz in der sachlichen Sinndimension fällt es insbesondere demokratischen Politiksystemen immer schwerer, schnell genug zu reagieren oder gar proaktiv zu steuern.
Nach Willke (2007, S. 181) ist es schwierig, die Demokratie zu kritisieren, da man immer der Gefahr ausgesetzt ist, missverstanden zu werden. Zwar hat die Demokratie viel erreicht, allerdings sollte sie auch nicht als immun gegenüber historischem Wandel betrachtet werden.
Mit der Einführung des Wahlsystems wurden Hierarchie und Monokratie durch eine intelligente Demokratie (Lindblom 1965) ersetzt, die wegen der begrenzten Regierungszeiten eine höhere zeitliche Flexibilität erreichte. Sie war erfolgreicher, weil sie anfing, auf Basis der Vergangenheit zu lernen (Willke 2007, S. 166).
Die intelligente Demokratie nutzt die Intelligenz der Evolution, um sich vorsichtig in inkrementellen Schritten weiterzuentwickeln und an veränderte Bedingungen und Umwelten anzupassen. Allerdings ist davon auszugehen, dass dies nicht ausreicht, um mit den Herausforderungen der Komplexität der modernen Gesellschaft und dem schnellen Wandel mitzuhalten (Willke 2007, S. 181).
Willke (2007, S. 122) geht davon aus, dass in demokratischen Nationalstaaten die formale Legitimität der Gesetzgebung und die prozessuale Legitimität der Demokratie zur Lösung von komplexen Problemen begrenzt sind. Insbesondere interdisziplinäre, intergenerationale und internationale Probleme können nicht mit der Logik eines demokratischen Wahlsystems mit den kurzen Wahlperioden und Grenzen des Nationalstaates gelöst werden. Durch die Institutionalisierung von Gremien, Beiräten, Think Tanks, Panels und anderen Beratungen haben die Nationalstaaten bereits versucht, die Expertise zu erhöhen.
Da sich die Politik jedoch an Wahlstimmen orientieren muss, kann sie keine langfristig verbindlichen Steuerungsentscheidungen treffen (Wiesenthal 2006, S. 202 f.). Der demokratische Entscheidungsfindungsprozess bleibt daher sehr kurzfristig und missachtet negative Externalitäten. Durch langwierige Verhandlungen, Abkommen und Koalitionsbildungen kann die Politik nur sehr langsam reagieren. Gleichzeitig zwingen die kurzen Wahlzyklen zu einer Kurzsichtigkeit, die auch die Verantwortung der Politik simplifiziert und dadurch anfällig für Populismus macht (Willke 2007, S. 171).
Gesetze können im Grunde erst dann richtig diskutiert werden, wenn sie in Kraft gesetzt worden sind und alle Nebenwirkungen der Steuerungsmaßnahme sichtbar werden. Neben der schweren Abschätzbarkeit von Nebenfolgen kommt hinzu, dass Gegenmaßnahmen einen sehr langen und zeitintensiven Prozess durchlaufen müssen und viel Zeit vergeht, bis sie durchgesetzt werden können. So kommt es, dass zu den heutigen Folgen einer technischen und wirtschaftlichen Entwicklung, deren Entscheidung bereits gestern getroffen wurde und deren Grundlagen „vorgestern“ erarbeitet worden sind, erst morgen über Gegenmaßnamen entschieden wird, die dann „übermorgen“ wirken können (Beck 2016, S. 336 ff.).
Hinsichtlich präventiver Maßnahmen beschränkt sich die Macht der Politik auf die Bereitstellung von öffentlichen Gütern. Meist reagiert die Politik nur auf bereits bestehende gesellschaftliche Probleme wie beispielsweise negative Externalitäten. Im Wesentlichen bietet sie einen Reparaturdienst für den hochkomplexen und hochriskanten Gesellschaftsapparat (Willke 2007, S. 90).
Nach Willke (2007, S. 116 f.) kann ein demokratisches System zwar einzelne Probleme in der Gesellschaft lösen, aber sie ist nicht in der Lage, einen fundamentalen Gesellschaftswandel einzuleiten. Es sollten daher nachhaltige Demokratien im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung aufgebaut werden.
Dazu gehört eine reflexive Politik, die vorausschauend handelt (Willke 2007, S. 90).
Die Zunahme der sachlichen Kontingenz führt zu einer Erhöhung der zeitlichen Kontingenz, da immer schneller entschieden werden muss. Dem Politiksystem fehlen allerdings die Strukturen, um auf die Herausforderungen in der sachlichen Dimension in ausreichend hoher Dynamik reagieren zu können. Wegen des kurzfristigeren Zeithorizonts können gleichzeitig keine komplexen Sachverhalte mit langfristigem Zeithorizont angegangen werden. Mit einer zu geringen Komplexität können daher die sinnvollen Möglichkeiten nicht schnell genug gewählt werden, sodass auch die Kontingenz in den anderen Sinndimensionen, insbesondere in der sachlichen Sinndimension, zunimmt.
Die Herausforderungen der gesellschaftlichen Steuerung entstehen besonders durch die Kontingenz in der sozialen Sinndimension, da sich komplexe Systeme immer in einer Situation von doppelter Kontingenz gegenüberstehen.
Durch die gesellschaftliche Ausdifferenzierung haben sich evolutionsbedingt für die jeweiligen Funktionssysteme spezifische binäre Codes entwickelt. Dadurch erfolgt die Steuerung der Gesellschaft nicht mehr mit einem einheitlichen Ethos, sondern die Irritationen durch die Umwelt werden durch die funktionsspezifischen Codes innerhalb der Systeme gesteuert. Die Herausforderung ergibt sich daraus, dass die Codes nur noch schlecht miteinander integriert sind. Das heißt, wenn aus Sicht des Codes eines Systems etwas sinnvoll erscheint, muss sich dies nicht zwingend auch für den Code eines anderen Systems als richtig erweisen. So kann sich der Versuch einer politischen Steuerung als nicht wirtschaftlich herausstellen (Luhmann 1986, 87 f.).
Wie in jedem gesellschaftlichen Funktionssystem besteht auch im Politiksystem die Herausforderung in der sozialen Dimension. Soziale Systeme stehen einander, wie in Kapital 2.1 beschrieben, in einer Situation doppelter Kontingenz gegenüber, da sie sich wegen ihrer Komplexität nicht gegenseitig durchschauen können.
Zwar setzt eine Steuerung Rationalität voraus, aber für den Erfolg einer sozialen Steuerung muss zusätzlich die Reaktion des Steuerungssubjektes berücksichtigt werden. Dazu zählen nicht nur die direkt beobachtbaren Reaktionen, sondern auch die Annahmen, Erwartungen und Absichten, die damit verbunden sind, was einer Situation doppelter Kontingenz entspricht. Die erwartete Situation kann so eintreten, aber sie könnte sich auch ganz anders entwickeln. Da zukünftige Ereignisse immer auch ganz anders sein könnten, ist die Zukunft im Zusammenspiel von Systemen immer unsicher. Eine kausale Herleitung von zukünftigen Entwicklungen ist daher nicht möglich. Sie können zwar auf Annahmen und Hypothesen über die Wirkung basieren, aber eine Gewissheit über den Erfolg wird es nie geben können. Jede Steuerungsabsicht kann damit nur einen Versuch der sozialen Steuerung darstellen (Wiesenthal 2006, S. 15 f.).
Die Grenzen der politischen Steuerung werden in der sozialen Sinndimension besonders durch die Grenzen des Nationalstaates sichtbar. Aus den Theorien zu Internationale Regime und Policy-Netzwerken geht hervor, dass der Nationalstaat nicht mehr der Hauptakteur der politischen Steuerung ist (Haas 1980; Krasner 2004; Lehmbruch 1991).
Die Bedeutung des Nationalstaates nimmt aufgrund der Globalisierung und der damit einhergehenden räumlichen Unabhängigkeit von Zahlungen ab. Es scheint eine Machtverschiebung vom politischen System hin zum wirtschaftlichen System zu geben (Strulik 2000, S. 112).
Es gibt viele Gründe für eine Auflösung der territorialen Souveränität. Dazu zählen negative Externalitäten, die kein Halt vor Staatsgrenzen machen, aber auch Wissen, Erfindungen und Innovationen, die sich in globalen Netzwerken unabhängig von Staatsgrenzen ausbreiten (Willke 2007, S. 53).
Mit den steigenden Löhnen und Lohnnebenkosten führte der Sozialstaat zu Widerstand bei Investoren, die darauf mit Rationalisierungsmaßnahmen und Stellenabbau reagieren. Zudem können die Nationalstaaten die globalen Umweltrisiken nicht mehr kontrollieren (Beck 2016, S. 309 f.).
Nach Beck (2016, S. 63) konnte die Klassengesellschaften noch innerhalb des Nationalstaats koordiniert werden. Aber eine Risikogesellschaft kann nur durch Global Governance koordiniert werden. Die gesellschaftliche Selbstgefährdung zwingt die Weltgemeinschaft zur Zusammenarbeit und lässt eine Weltgesellschaft näher rücken.
Durch die allmählich entstehende Weltgesellschaft nimmt die Kontingenz in der sozialen Dimension zu, was die Steuerungsfähigkeit der Politik vor neue Herausforderungen stellt. Durch die Entgrenzung des Raumes verliert die bisherige normative Orientierung an Bedeutung, während die Orientierung an kognitiven Erwartungen an Bedeutung gewinnt (Strulik 2000, S. 114 f.).
Luhmann (1991) geht davon aus, dass die heutige Gesellschaft bereits eine Weltgesellschaft ist, da durch die Globalisierung ein globales Kommunikationsnetzwerk existiert. Durch die Dominanz der gesellschaftlichen Funktionssysteme verliert der Nationalstaat an Bedeutung und stellt neben der primären Differenzierung der Gesellschaft in Funktionssysteme nur noch eine sekundäre Gesellschaftsdifferenzierung dar.
Willke kritisiert dies, da die Weltgesellschaft noch nicht in der gleichen Art und Weise arbeitet wie Nationalstaaten. Die Vielfalt und Heterogenität der weltweiten Gesellschaften verursachen Konflikte und verhindern die Entstehung einer Weltgesellschaft. Eine Weltgesellschaft sollte in der Lage sein, sich selbst zu steuern, indem sie ihre grundlegenden Prozesse und Strukturen hinterfragt. Bisher gibt es jedoch keinen Beweis, dass sich ein globales Governance-Regime entwickelt hat. Es gibt aber viele Ansätze, die in diese Richtung zielen. Beispielsweise haben sich globale Regime aus Normen, Regeln und Institutionen entwickelt (Willke 2007, S. 60 ff.).
Nach dem Niedergang des Bretton-Wood-Systems haben sich neue Governance-Elemente wie internationale Gerichtshöfe und globale Policy-Netzwerke staatlicher Behörden und anderer Offizieller gebildet, wodurch der Nationalstaat an Macht verlor. Internationale Agenturen, Institutionen und Stiftungen aber auch NGOs und soziale Bewegungen nutzten diese Möglichkeit, um die Agenden, Diskurse und Entscheidungen der Nationalstaaten zu prägen (Slaughter 2009).
Von einer Weltgesellschaft zu sprechen, hält Willke aber für übertrieben, da eine gesellschaftliche Selbststeuerung noch nicht existiert (Willke 2006, S. 34). Soziale Beziehungen und Transaktionen spielen sich heute noch überwiegend auf regionaler oder lokaler Ebene ab. So wird immer noch die Mehrheit der Güter, die in den USA oder in der EU hergestellt werden, innerhalb dieser Regionen gehandelt. Wichtiger ist aber, dass in modernen Demokratien die inländische Souveränität weiterhin die maßgebliche Souveränität darstellt, mit der Handlungen beeinflusst werden (Willke 2007, S. 54).
Durch eine „Deglobalization“ (Bello 2004) aufgrund eines zunehmenden Protektionismus, den der Handelskonflikt zwischen USA und China vermuten lässt (Lau 2019), könnte die Bedeutung des Nationalstaates sogar wieder steigen. Aus globaler Sicht nahmen die Handelsbarrieren in den vergangenen Jahren zumindest nicht ab. Denn im Gegensatz zur starken Reduktion der durchschnittlichen Zollquote aller Produkte weltweit seit Mitte der 1990er Jahre nahm diese Quote seit 2012 wieder marginal zu (World Bank 2022).
Durch die Selbststeuerung der ausdifferenzierten Funktionssysteme werden die nationalstaatlichen Gesellschaften zwar gestört, allerdings sind weitere Destabilisierungen bisher nicht erkennbar. Da eine globale Selbststeuerung noch nicht institutionalisiert wurde, hat sie auch nicht die Qualität einer Gesellschaft erreicht, weshalb es auch zu früh ist, von einer Weltgesellschaft zu sprechen. Es sollte daher eher von lateralen Weltsystemen anstatt von einer Weltgesellschaft gesprochen werden (Willke 2006, S. 38 f.).
Laterale Weltsysteme entstehen als grundlegende Ergänzung der modernen Gesellschaft. Sie sind eine Erweiterung der internen funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft in einen globalen Raum über den Nationalstaat hinaus. So entsteht beispielsweise aus den nationalen Wirtschaften eine Weltwirtschaft, die über die Nationalgrenzen hinaus die nationalen Wirtschaften miteinander verbindet (Willke 2007, S. 55 ff.).
Zwar verliert der Nationalstaat gegenüber einem globalen Steuerungsregime an Steuerungskompetenz, indem die lateralen Weltsysteme die Souveränität der Selbststeuerung innerhalb der Nationalstaaten angreifen. Allerdings ist eine Verabsolutierung des Nationalstaates eine ebenso falsche Folgerung wie die Behauptung der Existenz einer Weltgesellschaft (Willke 2005, S. 131).
Auch die Theorien der internationalen Politik gehen weiterhin von einer wichtigen Bedeutung des Nationalstaates aus, da durch eine Verknüpfung von privaten und öffentlichen Akteuren neue Steuerungsmöglichkeiten im Sinne einer Global Governance entstehen können (Altvater und Mahnkopf 2007; Strange 1996; Reinicke 1998; Zürn 2005).
Damit verliert der Nationalstaat zwar an Bedeutung, was aber nicht gleichbedeutend ist mit dem Ende des Nationalstaates. Er bleibt ein wichtiger Akteur der Global Govenance neben Institutionen, Konzernen, NGOs, Stiftungen, sozialen Bewegungen und so weiter, deren Bedeutung für die gesellschaftliche Steuerung in Abschnitt 4.​3.​2 noch näher beschrieben wird. Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie die zunehmend komplexen Akteure und Institutionen in Form von verteilter und disaggregierter Governance am besten organisiert werden (Willke 2007, S. 8).
Global Governance erreicht ihre Stärke weder aus einem hegemonialen Regime noch durch Zentralisierung, sondern eher mit einem geduldigen und gemäßigten Ansatz der Koordination in Verbindung mit einer Verteilung der Governancekapazitäten auf die lateralen Weltsysteme (Willke 2007, S. 59).
Eine gesellschaftliche Steuerung ist nicht zwingend auf das politische System angewiesen, denn es besteht auch die Möglichkeit, dass sich die Systeme untereinander abstimmen (Wiesenthal 2006, S. 70 f.).
Gegenüber der externen Steuerung durch die Politik bietet die Stärkung der internen Steuerungsmöglichkeiten innerhalb der gesellschaftlichen Funktionssysteme neue Ansätze, um mit der zunehmenden Kontingenz in der Gesellschaft zurechtzukommen.
So wurde durch die demokratische Steuerung des Nationalstaats lange Zeit die Selbststeuerung innerhalb der gesellschaftlichen Funktionssysteme unterdrückt, da die Entwicklungen in den jeweiligen Systemen begrenzt wurden. Beispielsweise erfolgte im Bretton-Wood-System der Versuch, das globale Finanzsystem mit einem politischen System, das nur lokale Reichweite hat, zu steuern. Damit stieß die politische Steuerung durch den Nationalstaat an ihre Grenzen. Mit der Globalisierung hat der Nationalstaat seinen Zenit der Macht überschritten und kann damit nicht mehr nur das Wirtschaftssystem nicht begrenzen, sondern er kann auch nicht mehr die anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme in ihrer Entwicklung beschränken (Willke 2007, S. 90).
Die Machtverschiebung vom politischen zum wirtschaftlichen Funktionssystem kann daher nicht nur als ein Machtmissbrauch der Wirtschaft betrachtet werden, sondern ist auch als eine Möglichkeit zu sehen, die Verselbstständigung der Politik, die in ihrer eigenen Logik verharrt, aufzulösen, wodurch neue Möglichkeiten geschaffen werden, weitere Interessen zu berücksichtigen (Beck 2016, S. 308).
Durch die Ausdifferenzierung ergeben sich immer mehr Möglichkeiten, wie andere Systeme ihre Operationen gestalten, wodurch die Kontingenz in der sozialen Dimension zunimmt. Dies führt dazu, dass auch das Politiksystem immer weniger in der Lage ist, die Operationen der anderen Systeme nachzuvollziehen und sie damit auch nicht mehr kontrollieren kann. Dabei hat beispielsweise das Wirtschaftssystem eine solche Komplexität erreicht, die weit über Nationalgrenzen hinausgeht. Der Nationalstaat mit den begrenzten Steuerungsmöglichkeiten kann daher die Entwicklung des Wirtschaftssystems zu einer pathologischen Selbstreferenz nicht mehr aufhalten, weshalb neue Arten der gesellschaftlichen Steuerung entwickelt werden müssen. Eine höhere Selbststeuerung innerhalb der gesellschaftlichen Funktionssysteme muss nicht als Machtmissbrauch verstanden, sondern kann auch als überfällige Entwicklung gesehen werden, bei der die veralteten Strukturen des politischen Systems aufgebrochen werden, um eine Steuerung der modernen Gesellschaft zu ermöglichen und die damit verbundene Kontingenz zu verarbeiten.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass in der Vergangenheit zum Schutz der Realwirtschaft vor der Finanzwirtschaft und zum Schutz der Gesellschaft und Umwelt vor der Realwirtschaft versucht wurde, die Wirtschaft durch das politische und rechtliche Funktionssystem der Gesellschaft in andere Bahnen zu lenken. Dabei stießen diese Eingriffe in die Wirtschaft jedoch immer wieder an Grenzen. Der Schutz der wirtschaftlichen Grundlage erfolgt immer nur durch eine Einschränkung der wirtschaftlichen Operationen, wodurch die Gefahr von einer Zerstörung der Umwelt zu einer Zerstörung der Wirtschaft verschoben wurde.
Die Politik kann aufgrund ihrer Systemrationalität keine Systeme im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen Rationalität steuern. Zudem sind autopoietische Systeme wegen ihrer Selbststeuerung nicht direkt steuerbar. Die Systemtheorie kritisiert Handlungstheorien, da diese wegen kausaler Annahmen der Komplexität von sozialen Systemen nicht gerecht werden und daher die angenommenen Steuerungsziele nie erreichen können. Allerdings kann auch die Systemtheorie nicht genau vorhersagen, mit welcher Irritation eine Resonanz im System entsteht. Während Luhmann davon ausgeht, dass keine gesellschaftliche Steuerung möglich ist, da ein Steuerungserfolg nie vollständig gewährleistet werden kann, hält Willke es für möglich, dass die Selbststeuerung von Systemen durch Kontextsteuerung zumindest beeinflusst werden kann. Durch strukturelle Kopplungen können Lerneffekte über unerwartete Nebenwirkungen entstehen, wodurch eine Steuerung effektiver wird.
In der ausdifferenzierten Gesellschaft nimmt die Kontingenz in der sachlichen Sinndimension zu, da die gesellschaftlichen Funktionssysteme die Folgen ihrer eigenen Operationen kaum abschätzen können. Die eingeschränkte Wahrnehmung in Verbindung mit veralteten Sachverhalten führt bei der zunehmenden Komplexität dazu, dass bei Steuerungseingriffen die unerwarteten Nebenfolgen zunehmen.
Aufgrund der hohen Unsicherheit der Zukunft, die auf der Zunahme der sachlichen Kontingenz beruht, wird der Betrachtungshorizont kontinuierlich verkürzt, wodurch sich auch eine Zunahme der Kontingenz in der zeitlichen Dimension ergibt, weshalb immer schneller entschieden werden muss. Dem Politiksystem fehlen allerdings die Strukturen, um auf die Herausforderungen in ausreichender Dynamik reagieren zu können. Aufgrund der Tendenz kurzfristiger Betrachtungshorizonte können keine komplexen Sachverhalte mit langfristigen Zeithorizonten angegangen werden.
Die Herausforderungen für die gesellschaftliche Steuerung entstehen besonders durch die Kontingenz in der sozialen Sinndimension, da das Politiksystem durch die Ausdifferenzierung immer weniger in der Lage ist, die Operationen der anderen Systeme nachzuvollziehen, und sie damit auch nicht mehr kontrollieren kann. Der Nationalstaat mit den begrenzten Steuerungsmöglichkeiten kann daher die Entwicklung des Wirtschaftssystems zu einer pathologischen Selbstreferenz nicht mehr aufhalten.
Eine stärkere Selbststeuerung innerhalb der gesellschaftlichen Funktionssysteme muss aber nicht als Machtmissbrauch verstanden werden, sondern kann auch eine Steuerung der modernen Gesellschaft ermöglichen und die damit verbundene Kontingenz reduzieren.

3.4 Zwischenfazit

Um die Bedeutung der gesellschaftlichen Steuerung der Nachhaltigkeitsratings zu verstehen, muss in Erfahrung gebracht werden, woher die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung der Gesellschaft resultiert und worin die Probleme der Steuerung in eine solche Entwicklung bestehen.
Es bedarf neuer Formen der gesellschaftlichen Steuerung, die eine Gefährdung der Gesellschaft verhindern und die Gesellschaft vor einem anomischen Zustand bewahren. Die Forderung nach einer höheren Rationalität reicht hier nicht aus, da diese nur die Systemrationalitäten verstärken würde. Entscheidend ist, wie die Realität im System verarbeitet wird und wie durch eine andere Wahrnehmung der Umwelt des Systems die gesellschaftliche Gesamtrationalität besser berücksichtigt werden kann, ohne dass es zu einer Überlastung des Systems kommt. Nur dann kann Sinn erhalten und die gesellschaftliche Autopoiesis fortgesetzt werden.
Grundsätzlich steht die Wirtschaft vor einer Paradoxie. Unter Berücksichtigung des Finanzsystems kann das System sich nur dynamisch, also durch Wachstum, stabilisieren und selbst erhalten. Allerdings ist, realwirtschaftlich betrachtet, Wachstum nicht unbeschränkt möglich, da es auf Knappheiten basiert. Während also die Realwirtschaft neue Knappheiten erzeugt, versucht das Finanzsystem diese Knappheiten zu überwinden. Die Selbsterhaltung der Wirtschaft als Ganzes kann nur auf einer Ausgewogenheit beider Teilsysteme beruhen und nicht einseitig aufgelöst werden.
Die ausdifferenzierten Funktionssysteme operieren zwar eigenständig, was jedoch nicht heißt, dass diese voneinander unabhängig sind, sondern vielmehr, dass jedes System auf die anderen Systeme angewiesen ist. Besonders durch die ökologische Krise und durch Finanzkrisen wird deutlich, dass die Realwirtschaft und die Finanzwirtschaft mit einer zu geringen Resonanz arbeiten und sich allmählich verselbstständigen. Diese Rücksichtslosigkeit führt zwar zu enormer Leistung, aber gleichzeitig auch zur Ignoranz von Nebenwirkungen und negativen Folgen. Auf Basis der Beschreibung von historischen Entwicklungen wird deutlich, wie durch die Systemrationalität die eigene Umwelt zerstört wird und wie die Rückwirkungen zu einer Selbstgefährdung des Wirtschafts- und Finanzsystems führen.
Das politische System ist nicht in der Lage, die Selbstgefährdung durch das pathologische Wirtschaftssystem zu verhindern. Aus systemtheoretischer Sicht können soziale Systeme nicht direkt gesteuert werden.
Die Hausforderungen der gesellschaftlichen Steuerung bestehen in der zunehmenden Kontingenz in der sachlichen, zeitlichen und sozialen Sinndimension, was durch die ausdifferenzierte Gesellschaft bedingt ist. Mit den bestehenden Strukturen und den rationalen Komplexitätsverarbeitungslogiken des aktuellen politischen Systems wird es immer schwieriger, Kontingenz zu reduzieren.
Politik kann daher nicht alleine dafür sorgen, dass sinnvolle Anschlussoperationen im Wirtschaftssystem gefunden werden. Damit die Autopoiesis nicht einfach aufhört, muss die pathologische Selbstreferenz durch Selbststeuerung aufgelöst werden. Dazu müssen neue und komplexere Steuerungsformen gefunden werden, mit denen die zunehmende Kontingenz der modernen Gesellschaft verarbeitet werden kann.
Mit der Reduktion der Kontingenz können neue Anschlussmöglichkeiten geschaffen und die Autopoiesis fortgesetzt werden. Da die Kontingenz in der sachlichen und zeitlichen Sinndimension stark von der Kontingenz in der sozialen Sinndimension abhängt, bietet die Erhöhung der Komplexität in dieser Dimension die Möglichkeit, die Kontingenz in der sozialen Dimension – aber damit verbunden auch die Kontingenz in der sachlichen und zeitlichen Sinndimension – zu reduzieren und damit eine gesellschaftliche Steuerung zu schaffen, die wieder Anschlussfähigkeit und neuen Sinn für die Fortsetzung der Operationen in den gesellschaftlichen Funktionssystemen erzeugt.
Gesellschaft und Wirtschaft gefährden sich durch Sinnverlust selbst, da das pathologische Wirtschaftssystem mit der wirtschaftlichen Rationalität die eigene Umwelt zerstört und dadurch immer weniger sinnvolle Anschlussoperationen findet, die weiteren Sinn ermöglichen. Das politische System kann die pathologische Selbstreferenz durch zu hohe Kontingenz nicht mehr auflösen.
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Metadaten
Titel
Selbstgefährdung der Wirtschaft durch Sinnverlust
verfasst von
Christian Strangalies
Copyright-Jahr
2024
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-658-44078-7_3