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Open Access 2024 | OriginalPaper | Buchkapitel

1. Einleitung

verfasst von : Karolin Höhl, Jana Dreyer, Silke Lichtenstein

Erschienen in: EssensWert - Werte als multidisziplinärer Sammelbegriff im Kontext von Ernährung

Verlag: Springer Berlin Heidelberg

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Zusammenfassung

Essen ist politisch geworden (Schröder, 2016). Und das nicht erst, seitdem im Auftrag der Deutschen Bundesregierung eine Ernährungsstrategie aufgelegt wurde (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, 2024) und es im Auftrag des Deutschen Bundestages den ersten „Bürgerrat Ernährung im Wandel“ gibt (Mehr Demokratie et al., 2023).
Essen ist politisch geworden (Schröder, 2016). Und das nicht erst, seitdem im Auftrag der Deutschen Bundesregierung eine Ernährungsstrategie aufgelegt wurde (Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft, 2024) und es im Auftrag des Deutschen Bundestages den ersten „Bürgerrat Ernährung im Wandel“ gibt (Mehr Demokratie et al., 2023). Die sog. ‚Citizenconsumer‘ (Spaargaren & Oosterveer, 2010) gestalten durch politisches Essen implizit Prozesse, die sie explizit nicht beeinflussen können (Schröder, 2016). Sie konsumieren also auch im Bewusstsein ihrer Verantwortlichkeit als mündige Bürger*innen und prägen damit auch das Leitmotiv spätmoderner Ernährungsweisen, das Gute zu tun und das Falsche zu lassen. Ihre Ernährungsweisen inkludieren Wertungsprozesse, was dem Individuum wichtig, bzw. wichtiger ist. Denn essen ist nicht trivial (Schröder, 2016).
Trotz oder gerade wegen der Bedeutsamkeit von Essen lassen sich zahlreiche Be- und Abwertungen insbesondere von privaten Ernährungsweisen oder Wirtschafts- und Produktionsstilen finden, ebenso, wie Essende und Produzierende bewertet werden, ohne deren Abhängigkeit vom System zu benennen. Dabei finden sich Bewertungen vor allem in Form von Dichotomien, die meist keine Schnittmengen zulassen: „gut – schlecht“, „gesund – ungesund“, „nachhaltig – ausschweifend“. Auch vor der aktuell geführten Debatte zu notwendigen Transformationen des Ernährungssystems mit Ausrichtung entlang der Agenda 2030 (Vereinte Nationen [UN], 2015; Abou-Dakn et al., 2022) finden Wertungen statt. Teilweise schlussfolgern Debattierende, Konsumierenden fehle es an ausreichender Wertschätzung gegenüber Lebensmitteln, daher äßen sie v. a. preisorientiert (Lebensmittel, v. a. tierische Produkte seien „zu billig“), zu viele industriell und hochverarbeitete Produkte (sie hätten den Bezug zu den landwirtschaftlichen Ursprungsprodukten verloren), lebten das egozentrische Bedürfnis nach Hedonismus und Lustgewinn zu sehr aus (äßen nur, was „gut“ schmecke und das sei v. a. zu fettig, zu süß und zu salzig) und „verschwenden“ Ressourcen, in dem sie zu viele Lebensmittel wegwerfen würden (vgl. (Grauel, 2016; Grauel, 2013; Ritter et al., 2015; Günther, 2021; Bartsch & Körner, 2012).
Definitionen (nach (HLPE, 2019))
Ernährungssysteme umfassen alle Elemente (z. B. die Lebenswelt, Akteur*innen, Ressourcen, Vorleistungen, Prozesse, Infrastrukturen und Institutionen) und Aktivitäten, welche die Produktion, die Prozesse, die Verteilung, Zubereitung und den Konsum von Lebensmitteln betreffen sowie den Ertrag dieser Aktivitäten inkl. sozio-ökonomischer und Umweltfolgen. Eine Darstellung findet sich in Abbildung 1.
Nachhaltige Ernährungssysteme gewährleisten die Ernährungssicherung für alle gegenwärtigen Generationen derart, dass ökonomische, soziale und Umweltgrundlagen für zukünftige Generationen nicht gefährdet werden.
Im Spannungsfeld zwischen inneren und äußeren Anforderungen bewältigen Individuen durch Routinen ihren Essalltag – eben, weil sich die Skripte, welche das vorwiegend gewohnheitsmäßige Essen implizit (i. S. v. unausgesprochen) leiten, im herausfordernden Alltag bewährt haben und praktikabel und funktional sind (Rückert-John, 2017; Mende, 2022). Das ist kognitiv entlastend und eine „sichere Bank“.
Relativ neu ist, dass die Zielrichtungen von Ernährungsforschung, Verbraucherpolitik sowie Ernährungs- und Verbraucherbildung heutzutage mehr denn je moralisch konnotiert ist: Was ist erlaubt, was ist erwünscht und was gilt als falsch? Nach jahrzehntelanger Bemühung um ein „gesund für das menschliche Individuum“ folgt unter den aktuellen Herausforderungen ein „gesund für alle Lebewesen, Ökosysteme und Planet“. Unter der Transformationsdebatte werden u. a. Tierethik, Artenvielfalt, Chancengleichheit, Transparenz und Wertschätzung als hohe Güter angestrebt und als Maßstäbe angesetzt (Rückert-John, 2017). Dies impliziert ggf. auch eine Neuverhandlung von anerkannten Werten. So geht bspw. mit der Forderung nach Wertschätzung die Aufforderung nach werthaltigem Essen einher.
Wertediskurse im Kontext menschlicher Alltagspraktiken sind nicht neu und werden schon lange in vielen Lebensweltbereichen diskutiert. Die Intention des vorliegenden Textes ist es jedoch, zu untersuchen, ob und wie kollektive Werte Maßstäbe von Essen leiten. In der Auseinandersetzung mit Wertungen und explizit geäußerten Forderungen nach einer Wertebildung zur Steigerung von Wertschätzung wurden die Autorinnen des Textes häufig mit dem Wertbegriff in verschiedenen Kontexten konfrontiert. Es wurde deutlich, dass Werte im Kontext Ernährung omnipräsent, aber nicht greifbar zu sein scheinen.
Insbesondere das Spannungsfeld zwischen physischer „Einver-Leib-ung“ von Nahrung – etwas, das nicht mit anderen geteilt werden kann, auch wenn gemeinsam gegessen wird – und der moralisch-ethischen Facette auf soziokultureller und religiös-spiritueller Ebene sowie der Symbolkraft von Essen macht dieses Themenfeld für die Auseinandersetzung mit Werten interessant. Denn unabhängig von der kognitiven Beteiligung müssen Individuen sich durch die Multioptionalität in den verschiedenen Situationen, für die eine und gegen die anderen Optionen entscheiden: Welche Handlung ist im momentanen Kontext funktional? Die Entscheidung für eine Option „A“ und gegen andere Optionen kann in Abhängigkeit von der inneren Beteiligung des Individuums, dem sog. ‚Involvement‘, emotional oder kognitiv gefärbt sein – sie kann also bspw. impulsiv, habitualisiert, limitiert oder extensiv erfolgen (Foscht et al., 2017). Allen Entscheidungsmatrizen ist gemein, dass sie i. d. R. zu einem Ergebnis führen: Option A ist in der jeweiligen Phase wertvoller für das Individuum als die wertloseren anderen Optionen. Entscheidungen sind demnach Wertentscheidungen und über die Entscheidungen werden Werte zum Ausdruck gebracht (Mikhail, 2022, S. 7).
Daher analysiert der Text im Folgenden wie Werte definiert sind und wie sie sich zu anderen Konzepten (bspw. Motiven) abgrenzen. Er widmet sich auch der Frage, wie Werte speziell auf das Ernährungssystem und alle darin befindlichen
  • Subjekte, wie z. B. Essende, Handelnde, Produzierende, Forschende,
  • Objekte, wie z. B. Lebensmittel, materielle Ressourcen und Gegenstände sowie
  • angestrebten Zielen
angewendet wird und mit welchen Bedeutungen. Mittels einer umfassenden und multidisziplinären Literaturrecherche wird der Wertebegriff im folgenden Kapitel zunächst analysiert und systematisiert. Dann werden weitere Begriffe von Motiven und Motivationen, Bedürfnissen bis hin zur Wertschätzung gegen den Wertebegriff abgegrenzt bzw. zu diesem in Verbindung gebracht, Schnittmengen und Reichweiten aufgezeigt. Wo möglich, wird ein konkreter Bezug zum Ernährungssystem und Ernährungsweisen bzw. Lebensmitteln hergestellt, um die Anwendbarkeit und den Nutzen in diesem Bereich zu prüfen.
Open Access Dieses Kapitel wird unter der Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz (http://​creativecommons.​org/​licenses/​by/​4.​0/​deed.​de) veröffentlicht, welche die Nutzung, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verbreitung und Wiedergabe in jeglichem Medium und Format erlaubt, sofern Sie den/die ursprünglichen Autor(en) und die Quelle ordnungsgemäß nennen, einen Link zur Creative Commons Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden.
Die in diesem Kapitel enthaltenen Bilder und sonstiges Drittmaterial unterliegen ebenfalls der genannten Creative Commons Lizenz, sofern sich aus der Abbildungslegende nichts anderes ergibt. Sofern das betreffende Material nicht unter der genannten Creative Commons Lizenz steht und die betreffende Handlung nicht nach gesetzlichen Vorschriften erlaubt ist, ist für die oben aufgeführten Weiterverwendungen des Materials die Einwilligung des jeweiligen Rechteinhabers einzuholen.
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Metadaten
Titel
Einleitung
verfasst von
Karolin Höhl
Jana Dreyer
Silke Lichtenstein
Copyright-Jahr
2024
Verlag
Springer Berlin Heidelberg
DOI
https://doi.org/10.1007/978-3-662-68713-0_1